Kristall der Träume
Problem aufgetaucht. Es kamen keine Novizinnen mehr nach St. Amelia, und die erste Generation von Künstlerinnen unter den Nonnen war am Aussterben. Der Bischof schließlich hatte eine Lösung gefunden. Eine vernünftige und geniale Lösung zugleich, wie Edman befand, aber Winifred würde es natürlich nicht so sehen.
Er musste behutsam vorgehen, denn er wusste nicht, wie sie auf seine Worte reagieren würde. Man durfte ihre rebellische Ader nicht außer Acht lassen. Wenn er sie nicht mit Samthandschuhen anfasste, würde er alles zunichte machen. Andererseits war der Abt ein Mann von Ehrgeiz. Einer Abtei vorzustehen bewies Erfolg, daran bestand kein Zweifel, doch er fühlte sich zu Höherem berufen. In Portminster wurde gerade eine neue Kathedrale erbaut, und das verlangte nach einem neuen Bischof. Und dieser Bischof würde er sein, Ehrwürden Edman. Sein ehrgeiziger Plan hing jedoch in hohem Maße davon ab, dass Winifred weiterhin Illuminierungen anfertigte.
Während der Abt weitere Kekse verspeiste, ließ Winifred die fertigen Manuskripte in den Kapitelsaal bringen. Edman sah sie sich an.
Die leuchtenden Farben waren auch diesmal wieder atemberaubend. Er hätte schwören mögen, dass man einen Pulsschlag spürte, wenn man das Rot berührte, dass man den Duft von Butterblumen einatmete, wenn man am Gelb roch. Eine merkwürdige Ironie, dachte der Abt, dass Winifred selbst so starr, unnachgiebig und farblos war, während ihre Werke vor Leben sprühten.
Er lobte die Arbeit nicht – das tat er nie, und Winifred erwartete es auch nie. Dennoch sah sie die Bewunderung in seinen Augen und verspürte kurz ein Gefühl des Stolzes. Daher glaubte sie, dass dies der geeignete Zeitpunkt sei, noch einmal ihr Anliegen mit dem Altarbild vorzubringen.
Geduldig hörte er sich ihre Erklärung an – »Ich möchte der heiligen Amelia etwas dafür geben, was sie mir gegeben hat« –, obwohl er bereits den Entschluss gefasst hatte, ihre Bitte abzuschlagen. Edman konnte einfach nicht erlauben, dass Winifred ein Projekt in Angriff nahm, das Monate dauern würde – kostbare Zeit, die besser darauf verwendet wäre, junge Nonnen in der Kunst des Illuminierens zu unterweisen.
Er räusperte sich und versuchte, so zu klingen, als hätte er ihr Anliegen ernsthaft in Erwägung gezogen. »Die heilige Amelia ist gewiss der Ansicht, dass Ihr ihr in all den Jahren genug gedient habt, Mutter Oberin.«
»Warum geht mir dann das Altarbild nicht aus dem Sinn? Ich denke Tag und Nacht an nichts anderes.«
»Vielleicht solltet Ihr es mit Gebeten versuchen«, schlug Edman vor.
»Das habe ich getan, und die einzige Antwort, die ich anscheinend darauf bekomme, ist die, dass ich noch mehr über das Altarbild nachdenke. Ich träume sogar schon davon. Ich habe das Gefühl, ich werde von der Hand Gottes gelenkt.«
Der Abt schürzte die Lippen. Das war gefährliches Denken, dass eine Frau ihre Anordnungen direkt von Gott erhielt. Was, wenn auf einmal alle Frauen so dächten? Dann würden Ehefrauen nicht mehr ihren Ehemännern gehorchen, Töchter nicht mehr ihren Vätern folgen, und Chaos würde sich in der Gesellschaft ausbreiten. »Wie es sich trifft, Mutter Oberin, wird St. Amelia keine Verwendung mehr für ein Altarbild haben.«
Winifred zog die kaum vorhandenen Augenbrauen hoch. »Wieso das?«
»Ich fürchte«, er räusperte sich erneut, diesmal nervös, »dass St.
Amelia geschlossen wird.«
Winifred starrte ihn ungläubig an. Stille senkte sich über den Kapitelsaal. Durch wuchtige Türen hindurch hörte man leise Schritte. Endlich sagte sie: »Was meint Ihr damit?«
Er richtete sich auf. »Was ich damit meine, Mutter Oberin, ist, dass diese alten Gebäude unmöglich erneuert werden können und dass Reparaturen eine Verschwendung wären. Ich habe mich mit dem Bischof beraten, und er stimmt mir darin zu, Euch und Eure Schwestern im Kloster des Wahren Kreuzes unterzubringen und St.
Amelia zu schließen.«
»Aber unsere Arbeit – «
»Die Arbeit wird natürlich weitergehen. Und Ihr werdet Eure Künste an eine jüngere Generation von Nonnen weitergeben, die dann die Tradition aufrechterhalten können.«
Winifred war wie betäubt. Was für schlechte Nachrichten sie auch erwartet hatte – dieser Gedanke war ihr gänzlich fern gewesen.
»Und was passiert mit der heiligen Amelia?«
»Sie erhält ihre eigene Kapelle in der neuen Kathedrale in Portminster.«
Zu dieser späten Stunde war es still und leer in der Kapelle bis auf eine einsame
Weitere Kostenlose Bücher