Kristall der Träume
zu lauschen? Würden gebildete Männer es nicht ganz unterlassen, die Bibel zu lesen? Aber vielleicht fand diese Neuerung ja auch gar keinen Anklang. Er jedenfalls hatte nicht die Absicht, Stücke dieser Art in seiner Abtei aufführen zu lassen. Er sinnierte darüber, ob die Stücke den Anbruch einer neuen Zeit signalisierten.
Allerdings hatte es da vor nur zweiundzwanzig Jahren einen Tag gegeben, an dem die Kirche geglaubt hatte, die Zeiten würden sich so drastisch ändern, dass man buchstäblich das Ende der Welt verkündet hatte.
Wie sich herausstellte, war das Millennium eine einzige Enttäuschung. Die ganze Aufregung und Hysterie, die Festlichkeiten und Gelage, Leute, die in Massen zu ihm, dem Abt, gekommen waren, um ihre Sünden zu beichten, die Selbstmörder und all die, die den Weltuntergang prophezeit hatten – alle waren überzeugt davon, dass Jesus zurückkäme und das Ende der Welt bevorstünde. Und die endlosen Debatten erst! Zählen wir tausend Jahre von der Geburt Christi oder von seinem Tod an? Stand das Millennium für das Zweite Kommen Christi oder den Beginn von Satans Herrschaft?
War die Zerstörung des heiligen Schreins in Jerusalem durch die Muselmanen ein Zeichen? Nein, dieses Ereignis hatte erst im Jahre 1009 stattgefunden. War es neun Jahre später dann noch das Millennium? Abt Edman, damals ein junger Geistlicher, hatte sich der »Gottesfrieden«-Bewegung angeschlossen in dem Bestreben, dem Wüten der Feudalherren Einhalt zu gebieten. Natürlich hatte das Fieber um den Tag des Jüngsten Gerichts auch seine Vorteile gehabt.
Ein wohlhabender Baron der Grafschaft hatte sein ganzes Land und Vermögen der Abtei von Portminster vermacht und war anschließend zu einer Reise aufgebrochen, um den Abend der Jahrtausendwende in Sack und Asche gehüllt im Vatikan zu verbringen. Und dann, am Morgen des 1. Januar 1000 – nichts.
Nichts als ein weiterer kalter Morgen mit den üblichen Wehwehchen und Blähungen.
»Meine Reise verlief zufrieden stellend, dem Herrn sei Dank«, antwortete er schließlich. Hoffentlich würde dieses Geschwätz sie nicht wieder auf ihr Anliegen mit dem vermaledeiten Altarbild bringen. So ein ermüdendes Thema, egal, wie oft er ihr auch sagte, dass dies außer Frage stand. War ihr denn nicht bewusst, dass sie sich gegen Gott wendete, wenn sie sich dem Willen des Abtes widersetzte? Natürlich wusste sie das, und daher zeigte sie ihm gegenüber ja auch nie Ungehorsam. Die Frau war ein Muster christlicher Willfährigkeit, auch wenn sie hin und wieder die Beichte dazu nutzte, kleine rebellische Ansichten einzuflechten: »Ich bin der Sünde des Hungers schuldig«, pflegte sie durch das Beichtstuhlgitter zu murmeln, »und wünschte, Ehrwürden würde meinen Schwestern und mir mehr Essen gewähren.« Gewöhnlich ignorierte er derartige Anspielungen und erlegte ihr drei Vaterunser für die Sünde der Völlerei auf.
Der Verdruss des Abtes war aber auch mit Mitleid gepaart. Arme Winifred. Kaum hatte sich die Nachricht über das neue Kloster und seine Annehmlichkeiten verbreitet, war es zu einem beschämenden Exodus der Nonnen, adligen Damen und Schülerinnen aus St.
Amelia gekommen. Wie konnte es denn auch anders sein? Winifred wurde nicht gerade für ihre reiche Tafel gerühmt. Sie war knauserig, wenn es um Holz und Kohle ging, und erlaubte keine Schoßtiere.
Die adligen Damen beklagten sich oft bei ihm, dass es an vielem mangelte. Und nun waren sie bequem in ihrem neuen Zuhause untergebracht, wo Kaminfeuer vor Kälte schützten und die Tische sich unter der Last von Fleisch und Wein bogen. Die arme Winifred und ihre wenigen getreuen Anhängerinnen hingegen blieben sich selbst in diesen zugigen Räumen überlassen. Bestünde nicht weiterhin Bedarf an ihren herrlichen Illuminierungen, hätte er das Kloster schon vor langer Zeit geschlossen. Dame Mildred hatte Honighaferkekse gebacken, eine besondere Leckerei für die Schwestern. Aus Mangel an Honig und Hafer hatte sie genau elf walnussgroße Kekse gebacken, einen für jede Schwester und einen für Andrew, den Hausmeister. Um der Mutter Oberin die Peinlichkeit zu ersparen, dass sie dem Abt nichts anbieten konnte, hatte sie den Teller mit Keksen präsentiert, darauf bedacht, ihren eigenen Haferkeks zu opfern, damit der Abt sich von der Gastfreundschaft der Schwestern überzeugen konnte. Zu ihrem und Mutter Winifreds Entsetzen aber griff sich der Abt drei Kekse auf einmal und schob sie sich in den Mund. Sie mussten mit ansehen, wie
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