Kristall der Träume
seine Kiefer den kostbaren Hafer und Honig zermalmten und wie er sich drei weitere Kekse nahm, nachdem er die ersten verdrückt hatte. Die Kekse waren in Windeseile weg, und Oberin Winifred kochte innerlich vor Wut.
Während Edman die nicht sonderlich schmeckenden Kekse mit einem Becher schwachen Bieres hinunterspülte, sah er die Blicke, die die beiden Frauen tauschten. Er ignorierte es. Der Abt brachte keine Entschuldigungen für seinen Appetit vor, denn er glaubte fest daran, dass es Gottes Wille sei, seine Schäfchen wohlgenährt zu sehen. Wie konnte man von ihm erwarten, Ungläubige für das Christentum zu gewinnen, wenn er selbst wie ein ausgezehrter Spatz aussah? Würde der Heide nicht sagen: »Wie gut kann Euer Christ sein, wenn er seine Kinder hungern lässt?« Und wenn es darum ging, jemanden für das Evangelium zu gewinnen, verstand Ehrwürden Edman keinen Spaß. Nach außen hin hatte es zwar den Anschein, dass das Christentum seinen Einzug in England gehalten hatte, doch der Abt war sich nur allzu sehr bewusst, dass viele Menschen noch Bäume und Steinkreise verehrten. Unter dem dünnen Mäntelchen vorgetäuschter Frömmigkeit verbargen sich alter Aberglaube und heidnische Sitten und Gebräuche, und somit war der Kampf um die menschliche Seele eine nie enden wollende Schlacht. Er selbst sah sich als Krieger Gottes, und jeder wusste, dass Krieger essen müssen. Er wischte sich die Finger an seinem Habit ab, wandte sich dem Geschäftlichen zu und holte die neuen Seiten, die mit Inkunabeln versehen werden mussten, aus seinem Rucksack. Er hatte auch ein zu illuminierendes Buch für Winifred mitgebracht – ein weiterer Beweis dafür, dass Veränderungen im Gange waren, denn allmählich regte sich auch jenseits der Priesterschaft ein Interesse an Büchern. »Der Spender möchte, dass er auf der Titelseite abgebildet wird, und zwar in einer Rüstung auf seinem Pferd mit Schild und Lanze. Er möchte auch, dass seine Gemahlin am Anfang eines der Psalme dargestellt wird.«
Winifred nickte. Dies war eine häufig vorgebrachte Bitte. Sie wählte gewöhnlich Psalm 101 für die Frau eines Edelmannes. Im Lateinischen begann der Psalm mit dem Buchstaben D, der die richtige Form und den Platz dafür bot, eine menschliche Figur hineinzuzeichnen. Der Psalm begann zudem mit den Worten »Ich werde von deiner Liebe singen«, was den Damen immer zusagte. In England und Europa wurden dieser Tage zahlreiche Bücher illuminiert, von Evangelien und liturgischen Werken bis zu Auszügen aus dem Alten Testament und den von karolingischen Kopisten abgeschriebenen Sammlungen klassischer Dichter. Abt Edman jedoch hatte sich auf Psalter, Bücher der Psalmen, spezialisiert, die mit biblischen Szenen ausgeschmückt und von einer Qualität waren, wie man sie sonst nirgends in England fand – dank Winifred. Die Illuminierungen wurden in lebendigem Stil ausgeführt, die Figuren in realistisch anmutenden Posen und mit wehenden Gewändern dargestellt. Da Winifred in jungen Jahren von einem in dem für Winchester typischen Illuminierungsstil bewanderten Künstler ausgebildet worden war, waren ihre Kunstwerke von sattem Blau und leuchtendem Grün geprägt und von prächtigen Blattornamenten und Tiergestalten umrandet. Sie bezog aber auch ihren eigenen Stil mit ein, der sich durch Spiralformen, verschlungene Elemente und ineinander verwobene Tiere auszeichnete und an keltische Metallarbeiten denken ließ.
Die Zentren, in denen die Bücher hergestellt wurden, wetteiferten hart miteinander, denn es war der ehrgeizige Wunsch einer jeden rivalisierenden Abtei oder Kathedrale, ihren Büchern in Königsund Adelskreisen zu Ansehen zu verhelfen. Die Herstellung von illuminierten Büchern war indes Zeit raubend, und die meisten Kathedralen und Klöster fertigten nicht mehr als zwei Werke pro Jahr. Einer von Edmans Vorgängern hatte die glorreiche Idee gehabt, die Nonnen von St. Amelia mit dieser Arbeit zu beauftragen, denn mit ihren kleineren Händen und dem schärferen Blick für Details konnten sie sich mit den Großbuchstaben abmühen, während die Mönche einen Haupttext nach dem anderen verfassten. Aus purem Stolz hatte der ehemalige Abt verschwiegen, dass die Kunstwerke von Frauenhand geschaffen wurden, und daher war jedermann im Glauben, dass die Mönche der Abtei von Portminster diese prachtvollen Werke mit solch außerordentlicher Geschwindigkeit herstellten. »Sie arbeiten in Gottes Geschwindigkeit«, pflegte der Abt zu sagen. Nun aber war ein
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