Kristall der Träume
dass ihre Schwestern ihre Arbeit liebten – ihnen diese Arbeit wegzunehmen würde ihnen den Lebensinhalt nehmen.
Der Abt hatte diesen Einwand jedoch nicht gelten lassen. Winifred kam sich alt vor, ausgelaugt und wie eine zerbrochene Nähnadel nicht mehr zu gebrauchen. Alter zählte überhaupt nichts; Jugend bedeutete alles. Und wie ein Haufen welker Blätter weggefegt werden musste, damit neues Grün nachwachsen konnte, mussten sie und ihre ältlichen Schwestern weggefegt werden. Zum ersten Mal seit Jahren war Winifred der Verzweiflung nahe. Diese friedvolle, einfache Priorei hatte drei Jahrhunderte allen Stürmen, Überschwemmungen, Bränden und selbst Wikingerangriffen getrotzt. Nun sollte sie von einem Holzsplitter zu Fall gebracht werden!
Plötzlich voller Reue ob dieser frevlerischen Gedanken – denn es war kein gewöhnlicher Holzsplitter, der im neuen Kloster aufbewahrt wurde! – schlug Winifred die Hände zusammen und rief:
»O selige Amelia, ich habe dich nie um etwas gebeten.« Das entsprach der Wahrheit. Während alle Welt mit Bitten, Wünschen und Forderungen zur Heiligen gepilgert kam, hatte Oberin Winifred, seit vierzig Jahren die Hüterin der Heiligen, ihr nichts als Dankgebete dargebracht. Nun hatte sie aber doch eine Bitte, keine Bitte materieller Art, sie suchte auch keine Linderung von körperlichen Schmerzen, keinen Rat in Liebesdingen, keinen Ehemann – nein, Winifred bat allein um Führung. »Sag mir, was ich tun soll.«
Vierzig Jahre der Selbstkontrolle schwanden dahin. »Bitte hilf mir!«, rief sie und tat etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie warf sich über den Altar und drückte den Reliquienschrein an ihre Brust.
Entsetzt über ihren Frevel – das Reliquiar wurde höchstens von einem Staubwedel berührt – raffte sie sich, das Kreuzzeichen schlagend, rasch wieder auf. Dabei verfing sich ihr Fuß im Saum des Habits, und sie verlor das Gleichgewicht. Halt suchend, griff sie unbewusst nach dem Altartuch und zog im Fallen alles herunter -
Blumen, Kerzenständer, Reliquiar.
Halb im Schock schlug sie auf den Steinstufen auf, überschlug sich halb, stieß sich den Kopf an und wurde bewusstlos. Als Winifred wieder zu sich kam, fand sie sich auf den Stufen zum Altar ausgestreckt, den benommenen Blick auf das Gerüst über sich geheftet, in ihrem Schädel ein bohrender Schmerz. Bei dem Versuch, sich zu bewegen, merkte sie, dass ihr rechter Arm von einem Gewicht erdrückt wurde.
Der Reliquienschrein. Der nun offen stand.
Zum ersten Mal seit fast tausend Jahren lagen die Gebeine der Heiligen bloß.
Winifred sprang auf und wisperte: »Heilige Mutter Gottes!«
Bleich vor Entsetzen starrte sie auf die geschändeten sterblichen Überreste.
Ihr Herz klopfte wie wild, während sie fieberhaft überlegte, was sie nun tun sollte. Hatte eine Entweihung stattgefunden? Gab es ein besonderes Ritual dafür, die Gebeine einer Heiligen wieder zu ordnen? Der Abt. Sie musste Ehrwürden unverzüglich von dem Vorfall in Kenntnis setzen.
Doch irgendetwas ließ Winifred innehalten. Sie unterdrückte den Impuls, aus der Kapelle zu laufen, ließ sich langsam auf die Knie fallen und starrte fassungslos auf die verstreuten Gebeine. Sie sahen wie Muscheln aus, wie kleine Kieselsteine, die man in einem Bach findet – zerbrechlich und verletzlich, hier der Knochen eines zierlichen Fingers, da die Elle eines schlanken Armes. Zu ihrem Erstaunen war das Skelett vollständig, obwohl die Gebeine jetzt durcheinander lagen. Der Schädel saß noch am Hals, der Hals an den Schulterknochen. Die Rippen waren längst verfallen, und das Becken war in hundert Stücke zerbrochen. Der Hals aber war es, der Winifred Aufmerksamkeit auf sich zog, denn irgendetwas stimmte da nicht…
Sie beugte sich tiefer und kniff im schwachen Licht der Kapelle die Augen zusammen. Am Hals, wo sich die ersten beiden Wirbel zusammenfügten…
Ihre Augen weiteten sich. Hastig griff sie nach der Kerze und hielt sie an die Knochen. Mit angehaltenem Atem sah sie, wie das flackernde Kerzenlicht auf den bleichen Wirbeln tanzte und sich in einem glitzernden Etwas darin verfing. Winifred runzelte die Stirn.
Knochen glitzern nicht. Sie hielt die Kerze noch näher und beugte sich noch tiefer, kniff die Augen noch enger zusammen und starrte angestrengt auf den Spalt zwischen den beiden Wirbeln. Ein Hauch von Zugluft wehte durch die Kapelle, ließ die Flamme tanzen und das Etwas erneut funkeln. Es war wie der Funke beim Schlagen eines Feuersteins, ging
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