Kristall der Träume
Sonnenuntergang, und sie sah Azur, Türkis, Marineblau, Ultramarin, Lapislazuli, Dunkelblau, Indigo und das grünlich schimmernde Blau im Gefieder einer Krickente. Winifred war von der Farbe und Zusammensetzung des Kristalls gefesselt. Der Stein war nicht ganz durchsichtig, denn im Kern, wo sich Teilchen sammelten, die aufleuchteten, wenn die Sonne im richtigen Winkel darauffiel, war er wolkig und silberweiß und nahm eine andere Form an, je nachdem, wie man ihn betrachtete. Sie wickelte einen dünnen Faden um den Stein, ließ ihn daran pendeln und sah zu, wie er sich langsam im Sonnenlicht drehte. Die Substanz in seinem Inneren schien sich zu bewegen und zu verändern. Es war faszinierend. Wie Winifred so auf den Stein starrte, glaubte sie fast, den Schemen einer Frau darin zu erkennen, die ihr zunickte…
Sie hätte den Stein gern auf Pergament festgehalten, aber da würde ein Wunder geschehen müssen, denn wo in aller Welt sollte sie solche blauen Farbtöne finden, so eine lichte Transparenz, diese zarten Nuancen?
»Ihr habt Euer Frühstück nicht angerührt«, sagte Dame Mildred mit großer Besorgnis, nachdem die Schwestern das Refektorium verlassen und ins Skriptorium gegangen waren. Es sah der Oberin Winifred gar nicht ähnlich, dass sie ihren Teller nicht leer aß, und sie hatte noch nicht einmal ihr Morgenelixier getrunken. Winifred glaubte an den uralten Brauch, den Winter mit einem aus sieben Kräutern gebrauten Trank aus den Gliedern zu vertreiben. Seit ihrer Zeit als junge Novizin hatte sie ihren Körper jedes Jahr mit einem Tee neu belebt, der aus Klettenwurzel gebraut wurde, Veilchenblättern, Brennnesseln, Senfblättern, Löwenzahn, Lilienschösslingen und wilder Zwiebel. Übel schmeckend, aber so anregend! »Seit dem Besuch des Abts seid Ihr gar nicht mehr Ihr selbst.«
Dame Mildred erinnerte Winifred stets an die Schoßhündchen, die die Damen so liebten, die Sorte Hündchen, die man in einem Ärmel mit sich herumtragen konnte und die mit großen, wässrigen Augen daraus hervorschauten. Winifred argwöhnte, dass Mildred nichts entging, zumal sie eine so wichtige Domäne im Kloster innehatte. Schwestern kamen mit ihren Wehwehchen und Sorgen zu ihr, baten um Linimente, Tonika, Heilmittel und kräftigende Nahrung. Dame Mildred war eine winzige Person, aber bei all ihrer Zierlichkeit scharfsichtiger als der behäbige Abt. »Waren seine Nachrichten so schlimm?«, drängte sie.
»Wir werden in diesem Jahr kein neues Dach bekommen«, sagte Winifred schließlich. Es entsprach nicht ganz der Wahrheit, war aber auch keine richtige Lüge. Bislang hatte sie ihre Schwestern noch vor den schlechten Nachrichten verschont, weil sie erst noch darüber nachsinnen und im Stillen beten wollte. Sie hatte sich etwas Zeit erkauft, indem sie dem Abt erklärte, dass ihre Nonnen, von dem bevorstehenden Umzug beunruhigt, nicht in der Lage sein würden, an den neuesten Manuskripten zu arbeiten. Daraufhin hatte er ihr eine Gnadenfrist von zwei Monaten gewährt, nach deren Ablauf sie das Kloster aber räumen müssten. In der Zwischenzeit sann Winifred über das Wunder des geheimnisvollen blauen Steins nach und versuchte, seine Botschaft zu erkunden. Die betroffen dreinschauende Dame Mildred sich selbst überlassend, ging Winifred ins Skriptorium, wo die Schwestern bereits schweigend und andachtsvoll über ihre Arbeit gebeugt saßen und biblische Szenen mit so prächtigen Farben von solcher Lebendigkeit schufen, dass sie das Gespräch von ganz England sein würden. Das Geheimnis für diese einzigartigen Illuminierungen lag in den Farbpigmenten. Was nützte schließlich die Begabung des Künstlers, wenn er mit minderwertigen Farben arbeitete? Nun aber war der Vorrat an Farben merklich geschrumpft, und was noch vorhanden war, von minderer Qualität. Winifred hatte versucht, dem Abt einige Münzen für den Kauf neuer Vorräte zu entlocken, doch er hatte ihre Bitte abgeschlagen, wohl wissend, dass Winifred mit dem wenigen, das ihr zur Verfügung stand, wahre Wunder vollbringen würde, wie es auch in der Vergangenheit immer der Fall gewesen war. Winifred fiel nun der neue Ring wieder ein, den sie an der Hand des Abtes entdeckt hatte. Zweifellos das Geschenk eines Gönners der Abtei.
Der Wert dieses Schmuckstückes allein hätte ihren Nonnen die erlesensten Pigmente für ein Jahr erkauft, und vielleicht hätte sie sogar Malachit erstehen können, aus dem man atemberaubende Grüntöne herstellen konnte. So aber mussten sie und ihre
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