Kristall der Träume
Schwestern sich damit begnügen, Grün aus Wegdorn und Maulbeeren zu gewinnen, notfalls sogar aus Geißblattbeeren und Nachtschattenblättern. Vielleicht mussten sie auch wieder auf den Saft von Irisbluten zurückgreifen, dessen Beschaffung mühsam war und Geduld und Können erforderte. Die dunkelblauen Blüten waren keine nahe liegende Quelle für grüne Farben, und das Purpurrot, das zuerst herausgedrückt wurde, war nicht viel versprechend. Sobald man es aber mit Alaun vermischte, entstand ein klares, schönes Grün. Das Geheimnis, wie Winifred wusste, lag darin, die Pollen zu entfernen. War es gerecht, dass der Abt mit seinem schönen Ring ihre Schwestern dazu zwang, sich so viel zusätzliche Arbeit aufzubürden? Es stand wohl auch außer Zweifel, dass sie dieses Jahr ihre gelben Farbtöne aus Apfelbaumrinde herstellen müssten. Wenn sie sich doch nur Safran leisten könnten. Safran war eine unerlässliche Zutat für die Imitation von Gold. Ließ man eine Prise getrockneten Safrans mit Eiweiß in einer Schüssel ziehen, so erhielt man ein herrlich durchsichtiges, intensives Gelb. Winifred benutzte diesen glasigen Safran gern für ornamentale Federschnörkel um farbige Initialen, für an Gold erinnernde Rahmen illuminierter Tafeln in Büchern und für Goldglasuren und Nuancen in geschriebenen Zeilen in Rot und Schwarz – die Wirkung war jedes Mal beeindruckend. Sie hatten jedoch keinen Safran, aber Hauptsache, der Abt trug einen herrlichen Rubinring!
Am liebsten hätte Winifred ihre Entrüstung und Verzweiflung laut hinausgeschrien. Der Abt erwartete von ihr, dass sie aus einem Kieselstein einen Diamanten schuf, und nun sollte sie ihr ganzes Wissen auch noch an junge Nonnen weitergeben! Nicht nur, wie man zeichnete, malte und Pigmente herstellte, sondern auch noch, wie man die Ingredienzen erstand und dabei nicht übers Ohr gehauen wurde. Sah der Abt denn nicht, dass die Schülerinnen während dieses Lernprozesses nur sehr mäßige Illuminierungen hervorbringen würden? Konnte er sich nicht denken, dass der hervorragende Ruf seiner Bücher leiden würde, bis das Können der Novizinnen an die Virtuosität ebenjener Schwestern heranreichte, die er schnöde an die Luft setzen wollte? Sein fehlender Weitblick machte sie wütend.
Typisch für die meisten Männer, dachte sie verdrossen; der Abt dachte nur ans Heute. Sollten sich doch die Frauen über das Morgen den Kopf zerbrechen.
»Mutter Oberin!«, ertönte Dame Mildreds Stimme. Auf klappernden Sandalen kam sie ins Skriptorium geeilt. »Der fahrende Händler ist da! Ibn Abu Aziz Jaffar! «
Ach, wie wurde Winifred da von Freude erfüllt! »Dem Himmel sei Dank!«, stieß sie hervor. Gewiss war dies ein weiteres Zeichen Gottes: Gerade jetzt, wo ihre Vorräte fast aufgebraucht waren, schickte ihr der Allmächtige den Farbenhändler!
»Möge Gott mit Euch sein, Ibn Jaffar!«, rief sie ihm entgegen, als sie mit wehendem Habit den Pfad entlanghastete. »Und auch mit Euch, werte Dame!«, antwortete er, indem er mit anmutiger Geste den Hut abnahm und sich galant verbeugte. Der fahrende Händler, ein Mann fremdländischen Ursprungs mit olivfarbener Haut und gestutztem silberweißen Bart, begrüßte die Oberin auf eine Weise, die sie an Könige und ihren Hofstaat denken ließ. Er trug ein langes, mit Sternen und Monden besetztes Gewand; sein Hut war wattiert und hatte eine Fransenkrempe. Er war von stattlicher Gestalt, hoch gewachsen, und hielt sich trotz seiner schätzungsweise sechzig Jahre kerzengerade. Sein Pferd zog einen höchst sonderbaren Wagen, der mit himmlischen Symbolen, Tierkreiszeichen, Kometen und Regenbogen, Einhörnern und großen, allwissenden Augen bemalt war. Man kannte den fahrenden Händler landauf, landab als einen, der Träume verkaufte, Magie, Sternenstaub und Hoffnung. Die Menschen liebten es, wie ihnen sein Name Ibn Abu Aziz Jaffar über die Lippen rollte; Kinder rannten hinter seinem Wagen her, riefen seinen Namen, und die Frauen eilten aus ihren Häusern. In Wahrheit hieß er Simon Levi, und er war Jude. Obwohl er jedermann erzählte, er käme aus dem fernen Arabien, stammte er aus dem spanischen Sevilla. Seine Kunden sahen in ihm einen christlichen Zigeuner, doch unter seinem langen Umhang trug er den Gebetsschal, und wenn er des Nachts allein war, pflegte er andächtig das große Gebet
»Höre Israel« anzustimmen. Simon verbarg seine Identität nicht etwa aus Furcht vor Vorurteilen (Judenverfolgung gab es zu dieser Zeit in Europa nicht),
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