Kristall der Träume
nein, er hatte Gefallen an der exotischen Figur und der damit verbundenen Berühmtheit gefunden. Er liebte es, Rätsel und Illusionen zu verkaufen; das Herz ging ihm auf, wenn er sah, wie die Kinder verzückt an seinen Lippen hingen, denn Simon selbst hatte das Gemüt eines Kindes. Ein Zufall hatte ihn an Bord eines Schiffes, das auf dem Weg nach Brügge vom Kurs abgekommen war, nach England gebracht. Schon bald hatte er gemerkt, dass er sich von den anderen Menschen unterschied – in seiner Heimat war er nur einer unter vielen, hier war er etwas Besonderes –, und beschloss zu bleiben, um Gewinn aus dieser Einzigartigkeit zu schlagen. Er lebte allein, unternahm einmal im Jahr eine Rundreise von London zum Hadrians Wall und zurück und sehnte sich nach dem Tag, da er sich in sein bescheidenes Häuschen zurückziehen und die gute alte Seska, seit fünfzehn Jahren seine getreue Begleiterin, in den wohl verdienten Ruhestand auf die Koppel schicken konnte.
Ibn Abu Aziz Jaffar hatte jedoch eine Schwäche, die ihm bei mehr als einer Gelegenheit beinahe zum Verhängnis geworden wäre: Er liebte Frauen. Ob jung oder alt, behäbig oder flink, jedes weibliche Wesen rief in ihm wundersames Staunen und Ergötzen hervor. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er unter acht Brüdern aufgewachsen war. In seinen Augen waren Frauen ein Geschenk Gottes an die Männer, egal, was die Thora über Lilith und Adams unglückselige Tändelei mit ihr sagte. Er liebte die Weichheit ihrer Körper und ihren Geruch, ihre merkwürdigen Stimmungen und die Tatsache, dass sie manchmal schwächer, manchmal aber stärker als ein Mann sein konnten. Ihr animalischer Mutterinstinkt. Ihr kokettes Lächeln. Ihre langen Haare – oh, diese langen Haare! Obschon in fortgeschrittenem Alter, war Simon nicht alt genug, um einen festen Schenkel, einen vollen Busen und ein warmes Herz zu verschmähen.
Er brauchte die Frauen nie zu zwingen oder zu überreden; sie kamen freiwillig zu ihm, oder er ließ es ganz. Wo auch immer er hinkam, die Frauen waren von seiner Fremdartigkeit fasziniert und räsonierten tief in ihrem Herzen, dass ein Mann von so weit her geübter in der Kunst der Liebe sein müsste als die Einheimischen.
Und er war es, in der Tat.
Er reiste allein und wurde selten angepöbelt. Sogar Banditen respektierten den Heiler und baten selbst manches Mal um den Rat des Wahrsagers. Die Menschen konnten zwar nicht lesen, doch sie verstanden die Symbole auf dem Wagen zu deuten, die Simon als Alchimisten, Wahrsager, Barbier und Zauberer auswiesen. Er verkaufte alles – Knöpfe, Nadeln, Fingerhüte und Garn; Tinkturen und Salben; Flaschen und Löffel – mit einer Ausnahme: Er handelte nicht mit Reliquien und Devotionalien, denn Simon Levi gehörte einer äußerst seltenen Spezies an: Er war ein ehrbarer Händler.
Insofern überließ er den Handel mit Locken, Zähnen und Knochen von Heiligen den Scharlatanen und Priestern, wobei er manches Mal dachte, dass es zwischen den beiden keinen großen Unterschied gebe. Er hatte auch so seine eigene Meinung über den Holzsplitter des Wahren Kreuzes, der in dem neuen Konvent aufbewahrt wurde.
Auf seinen zahlreichen Reisen kreuz und quer durch Frankreich und Spanien war er einer ganzen Reihe von diesen Splittern begegnet, und er hatte von noch mehr Splittern in ganz Europa und im Heiligen Land erzählen hören; er sagte sich, dass jeder halbwegs vernünftige Mensch mit ein bisschen Rechnen dahinter kommen würde, dass alle angeblichen Splitter des Wahren Kreuzes zusammengenommen bis zum Mond reichen müssten.
Er erinnerte sich noch gut an die Hysterie vor zweiundzwanzig Jahren, als das so genannte Millennium eintreten sollte. Ein Rätsel für Simon, denn im jüdischen Kalender gab es keine Tausendjahrmarke und auch nicht im Kalender ihrer moslemischen Brüder, deren Zeitrechnung mit Mohammed begann. Sollte das bedeuten, dass nur ein Drittel der Menschheit zugrunde gehen würde, während der Rest einfach so weitermachte? Wie sich herausstellte, war diese Überlegung müßig, denn die bedeutungsvolle Zeitenwende trat ein, ohne dass etwas Gravierendes passiert wäre, und nun behaupteten die Priester, erst beim nächsten Millennium, im unvorstellbaren Jahr 2000, würden Jesus und die Engel auf die Erde niedersteigen. Wenn Simon so durch die englische Landschaft zog, stellte er sich den Leuten auf vielerlei Art dar, aber wann immer er an der Priorei von St. Amelia Halt machte, war er er selbst. Er bewunderte die
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