Kristall der Träume
Oberin und wusste, dass sie seine Verwandlungskünste durchschaute, seine Weisheit und seine Bildung jedoch schätzte. Und so verschwanden Fransenhut, Zauberstab und mystische Gebärden, nur den Zauberumhang behielt er an, weil er meinte, dass dieser ihm eine gewisse Würde verlieh.
Vor einem Jahr hatte ihn sein Weg das letzte Mal hierher geführt, und der Zustand der Priorei besorgte ihn: Verfallene Mauern, verdorrte Felder, keine Gänse oder Hühner zu sehen, Unkraut überzog den Weg, der einst von den Tritten der Pilger glatt getrampelt war. Er hatte davon gehört, dass das neue Kloster an Zulauf gewann, aber er hätte nie geglaubt, dass die nahe gelegene Abtei diese Klosterfrauen so vernachlässigen würde. Der feiste Abt musste doch sehen, dass seine frommen Schwestern Essen auf dem Tisch und Ale in ihren Bechern brauchten.
Als sie Jaffar mit seinem breiten Lächeln in dem olivfarbenen Gesicht vor sich stehen sah, wurde Winifred ganz warm ums Herz.
Sie war in weltlichen Dingen unerfahren, gerade mal zwanzig Meilen von der Priorei geboren und nie im Leben weiter gereist als diese Strecke. Ihre Belesenheit beschränkte sich auf Elementarkenntnisse des Lateinischen und ein wenig Bibelstudium, und was sie und ihre Schwestern vom Rest der Welt wussten, stammte aus den Erzählungen von Pilgern und Reisenden. Aber nachdem auch diese nicht mehr an ihre Pforte klopften, waren die Besuche von Ibn Abu Aziz Jaffar umso kostbarer, brachte der fahrende Händler doch jedes Mal Neuigkeiten und allerlei Klatschgeschichten mit. Ein merkwürdiger Mensch, dieser Händler, beinahe abstoßend in seinem fremdländischen Aussehen, und doch hatte er ein einnehmendes Wesen. Hätte Winifred sich derlei weltliche Gedanken zugestanden, würde sie ihn einen gut aussehenden Mann genannt haben. Sie vermutete, dass er nicht dem christlichen Glauben angehörte, andererseits wusste sie, dass er Gott im höchsten Maße achtete. Und dann hatte er noch so eine Art, manchmal Dinge zu sagen, dass kleine Lichter in ihrem Geist angesteckt wurden. Jaffar war nicht wie die anderen Händler. Die waren schmutzig, ungehobelt und gerissen, während Jaffar sauber und gepflegt daherkam, dazu mit diesem fremdländischen Charme.
Aber, was am meisten zählte, er war vertrauenswürdig.
Wie oft war sie in der Vergangenheit von anderen Händlern beim Kauf von Farbpigmenten geprellt worden. Billiges Azurit konnte man leicht für teures Lapislazuli halten. Um ganz sicherzugehen, mussten die Steine glühend heiß gemacht werden: Azurit verfärbte sich schwarz, Lapis behielt seine Farbe. Azurit wurde gewöhnlich in Pulverform verkauft, und da gab es nicht selten Betrüger, die Sand unter das gemahlene Pigment mischten, um das Gewicht zu verfälschen, und damit die Farbe ruinierten. Andere Gauner füllten die Farbbeutel so, dass das beste Blau obenauflag und die mindere Qualität unten. Nicht so Jaffar, der soeben eine Schachtel aus dem Wagen nahm und öffnete. Angesichts der Fülle der Farben verschlug es Winifred beinahe die Sprache.
»Gott der Herr schickt Euch im günstigsten Moment, Ibn Jaffar, denn meine Schwestern und ich haben keine Vorräte mehr. Ganz besonders brauchen wir Gelbtöne.« Zu ihrem Entzücken zeigte er ihr Gallensteine. Aus den Tiefen ihres Habits zog Winifred die mit Wasser gefüllte Glaskugel, die ihr als Vergrößerungsglas diente.
Jaffar hatte einmal versucht, ihr eine neue Erfindung aus Amsterdam zu verkaufen - ein geschliffenes Glas, das man Linse nannte –, aber sie hatte das Angebot als zu teuer ausgeschlagen. Während Winifred nun die Gallensteine durch ihre Glaskugel begutachtete, dachte Simon bei sich, dass hier die wahre Kunst dieser Frau lag. Denn Winifred war nicht nur malerisch und zeichnerisch begabt, sie besaß zudem den untrüglichen Sinn für Farben. Unter ihren flinken Fingern und scharfen Augen verwandelten sich die alltäglichsten Substanzen in die prächtigsten Farben in Gottes Schöpfung. Zum Beispiel ein als
»Saftgrün« bekanntes Pigment, ein Ersatz für den seltenen und unerschwinglichen Grünspan. Saftgrün erhielt man aus dem Saft der reifen Wegdornbeeren, der, mit Alaun vermischt, durch Verdunsten eingedickt wurde. Das Ergebnis war ein satter, durchscheinender Olivton. Auch andere Klöster hatten diesen Farbton zuwege gebracht, Winifreds Kunst lag jedoch in der Haltbarmachung der Farbe. Saftgrün hielt gewöhnlich nicht lange, das verrieten vor Jahrzehnten hergestellte Handschriften minderer Qualität. Oberin
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