Kristall der Träume
kostbar?«
»Ehrwürdige Mutter Oberin, ich könnte ein Vermögen für diesen Stein herausholen. Schon seine Einzigartigkeit würde einen schönen Batzen Gold erbringen.«
Ihre Augen wurden rund, und in ihrem Kopf begann es fieberhaft zu arbeiten. Mit einem Batzen Gold könnte sie das Dach und die Mauern reparieren lassen, sie könnte neue Betten kaufen, neue Feldfrüchte anbauen und ein paar Ziegen erwerben. Sie könnte junge Männer aus dem Ort zum Helfen anheuern, St. Amelia wieder wirtschaftlich unabhängig und für neue Novizinnen und adlige Damen attraktiv machen, was wiederum Zuwendungen und die Gönnerschaft ihrer Familien nach sich ziehen würde. In einem einzigen Augenblick, in dem betörenden Funkeln des blauen Kristalls, erblickte Winifred eine schöne neue Zukunft für ihren Konvent. Aber dann huschte ein Schatten über ihr Gesicht. »Ich muss mich mit dem Abt besprechen.«
»Was sagt er, was mit dem Stein geschehen soll?«
»Er weiß noch nichts von seiner Existenz.«
Ibn Abu Aziz Jaffar strich sich über den Bart. »Hmm«, machte er nur, und Winifred verstand ihn ohne Worte.
»Ich müsste es dem Abt sagen«, meinte sie dann etwas unentschlossen. »Oder nicht?«
Auf seine Frage, wie sie denn an den Stein gekommen sei, erzählte Winifred ihm die ganze Geschichte. Simon Levi strich sich erneut über den Bart. »Es möchte so scheinen, Ehrwürdige Mutter Oberin, dass dieser Stein Euch allein gegeben wurde. Ein Geschenk Eurer Heiligen.«
Als sie verunsichert an ihrer Lippe nagte, sagte Simon mit sonorer Stimme: »Ihr befindet Euch in einem Gewissenskonflikt.«
Sie neigte das verschleierte Haupt. »Ja, so ist es.«
»Es ist ein Kampf zwischen Glaube und Gehorsam.«
»Ich spüre, dass Gott mir etwas sagen möchte. Dem Abt hat er aber das genaue Gegenteil gesagt. Wie soll ich mich entscheiden?«
»Das, werte Dame, liegt bei Euch. Ihr müsst in Euer Herz hineinhorchen, was es Euch sagen will.«
»Ich folge Gott, nicht meinem Herzen.«
»Ist das nicht das Gleiche?« Er wollte noch mehr über den Kristall wissen, insbesondere, wie ihrer Meinung nach der Stein in den Halsknochen der Heiligen gelangt war. Daraufhin erzählte Winifred ihm, wie Amelia sich das Leben genommen hatte, bevor ihre Häscher die Namen anderer Christen aus ihr herauspressen konnten. »Mich dünkt«, merkte Simon an, »wenn dieser Stein wirklich eine Botschaft trägt, dann ist es die, dass Ihr Eurem Herzen folgen sollt.« Winifreds Gesicht hellte sich auf. »Das war auch mein Gedanke!« Und auf einmal gestand sie ihm ihren Traum von der Ausmalung eines Altarbilds für St. Amelia.
»Und was Euch am meisten beunruhigt«, räsonierte der weise Fremde, »ist die Sorge, dass Ihr in dem neuen Konvent diese Vision verliert.«
»Ja«, stammelte sie. »Ja…«
»Dann müsst Ihr Eurem Herzen folgen.«
»Aber Gott der Herr spricht doch durch den Abt.« Als er nichts darauf erwiderte und sie seinen skeptischen Blick sah, fuhr sie fort:
»Ibn Jaffar, ich vermute, dass Ihr kein Christ seid.«
Er lächelte fein. »Ihr vermutet richtig.«
»Gibt es in Eurem Glauben keine Priester?«
»Nicht wie bei Euch. Wir haben Rabbiner, aber die sind eher geistliche Ratgeber als Vermittler zu Gott. Wir glauben, dass Gott uns hört und direkt zu uns spricht.« Er wollte noch hinzufügen, dass Winifreds gekreuzigter Gott auch ein Rabbi gewesen sei, doch dies war nicht die Stunde noch der Ort für derlei Disput. Stattdessen sagte er: »Ich werde noch ein paar Tage am Fluss mein Lager aufschlagen, während ich die umliegenden Gehöfte aufsuche. Danach werde ich nach Portminster weiterziehen. Vor meiner Abreise könnt Ihr mir Euren Entschluss mitteilen, und ich bete, Ehrwürdige Mutter Oberin, dass es der richtige ist.«
Oberin Winifreds Entschluss stand fest. Sie würde allein zur Abtei gehen. Gewöhnlich reisten sie und ihre Ordensschwestern zu zweit oder in Gruppen, aber Winifred musste diesen Weg allein gehen. Entgegen den Anweisungen des Abts, das Kloster St. Amelia in Bälde zu verlassen, hatte Winifred den anderen Schwestern noch nichts davon gesagt. Möglicherweise hätte sie sich ohne Zögern den Anweisungen gebeugt, wäre da nicht dieser Zwischenfall mit dem Reliquiar und dem blauen Kristall gewesen. Aber es war nun einmal passiert, und sie war im Besitz des bemerkenswerten Talismans der heiligen Amelia, und so sah sie sich gezwungen, sich mit dem Abt zu beraten, was nun zu tun sei.
Sie hatte die ganze Nacht im Gebet verbracht, und obwohl
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