Kristall der Träume
bitte alle in den Wagen.« Seine Worte blieben wirkungslos. Die älteren Nonnen und die beiden adligen Damen drängten sich um die Oberin wie Küken um die Henne und riefen ängstlich: »Was sollen wir tun?« Winifred fiel eine Geschichte ein, die sich vor vielen Jahren zugetragen hatte. Die Wikinger hatten ein Dorf an der Küste überfallen, die Dorfbewohner hatten Schutz in der Kirche gesucht und sich dort zusammengeschart. Daraufhin hatten die Wikinger die Kirche in Brand gesteckt, und alle waren darin umgekommen. Wir dürfen uns nicht auf einem Haufen zusammendrängen, denn genau das erwarten sie von uns. »Hört mir gut zu, meine Schwestern. Erinnert ihr euch, wie unsere geliebte Heilige sich einer noch viel härteren Prüfung ausgesetzt sah als diese hier? Ihr Glaube und ihr Leben standen auf dem Prüfstand. Sie aber fand den Mut, ihre Peiniger zu überlisten, und das werden wir auch tun.«
»Aber Mutter Oberin«, warf Dame Mildred mit bebender Stimme ein. »Wie?«
»Jede von euch muss sich ein Versteck suchen, in dem die Eindringlinge keine Dame vermuten würden. Versteckt euch nicht unter dem Bett oder in einem Kleiderschrank, denn dort werden die Wikinger zuerst nachschauen.«
»Können wir uns nicht alle zusammen verstecken?«
»Nein.« Oberin Winifred schüttelte energisch den Kopf. »Genau das dürfen wir nicht tun, nicht einmal zu zweit.« Der Gardist der Abtei ergriff das Wort. »Mutter Oberin, es ist der Befehl des Abts…
«
»Ich weiß, was am besten für meine Damen ist. Und Ihr werdet auch hier bleiben.«
»Ich!« Erschrocken griff er sich an die Brust. »Ich muss zur Abtei zurück.«
»Ihr werdet bleiben«, befahl Winifred. »Ihr werdet Euch ein Versteck suchen und ganz still verhalten, bis ich Entwarnung gebe.«
»Aber ich erhalte meine Befehle vom… «
»Junger Mann, Ihr befindet Euch in meinem Haus, und ich habe hier das Kommando. Tut, wie Euch geheißen, und zwar rasch.« Nach einem Moment ratlosen Herumirrens schwärmten die Damen schließlich aus dem Kapitelsaal. Sie wählten entweder das am meisten geliebte Plätzchen in der Hoffnung, dass sie dort sicher seien, oder den am meisten gefürchteten Ort in dem Glauben, dass die Wikinger ihn ebenso fürchten würden. In Windeseile waren die elf Insassinnen von St. Amelia aus dem Blickfeld des verblüfften Gardisten verschwunden, der fürchtete, dass sie nun alle wie Schafe hingeschlachtet würden.
Aber dabei unterschätzte er Oberin Winifreds Findigkeit. Da ihre Ordensschwestern kleiner und zierlicher gebaut waren als die Wikinger, konnten sie sich, wie Mäuse in Mauerrissen, in die kleinsten Verstecke zwängen, an welche die Teufel nicht herankämen. Dame Mildred zum Beispiel schob die Spinnweben über der Öffnung ihres riesigen Schmortopfs behutsam beiseite, stieg hinein und zog sich die Spinnweben über den Kopf.
Schwester Gertrude entwickelte ungeahnte Kräfte und Ideen. Sie kletterte in den Schornstein des gewaltigen Kamins im Kapitelsaal und hing wie eine verängstigte Fledermaus an den Scharnieren des Rauchkanals. Schwester Agatha wiederum flüchtete sich in das Dormitorium, riss den Saum einer Matratze auf, zog Teile der Strohfüllung heraus und warf sie aus dem Fenster. Dann kroch sie in die Matratze und hielt den klaffenden Saum mit den Fingern zu.
Dame Odelyn wollte sich zunächst auf den Eimer in dem gefürchteten Brunnen setzen, aber dann sagte sie sich, dass der Eimer sie verraten könnte. Also stieg sie tapfer in den Brunnenschacht, wobei sie sich an den hervorstehenden Mauersteinen festhielt. Schwester Agnes warf sich auf das Grab ihres Kindes und deckte sich mit Laubschichten zu. Schwester Edith, die immer Mühe hatte, das necessarium zu finden, floh zu eben jenem stillen Örtchen und zwängte sich in den übel riechenden Spalt zwischen Sitz und Wand. Erst als sie sich vergewissert hatte, dass alle, auch Andrew und der Gardist aus der Abtei, sicher versteckt waren, suchte Winifred ihren eigenen Schlupfwinkel auf. Sie erklomm das Holzgerüst über dem Altar und kauerte sich hinter die Balken.
Da kamen auch schon die Nordmänner mit Furcht erregendem Geheul in den Vorhof gestürmt. Wie wilde Stiere polterten sie durch den Kapitelsaal und die Kapelle, durch Dormitorium und Refektorium, Küche und Skriptorium. Wie Winifred vorhergesagt hatte, suchten sie überall nach den Schwestern: im Beichtstuhl, hinter dem Altar, hinter Wandteppichen, in Schränken und Truhen, unter den Betten. Mit gesenktem Kopf im
Weitere Kostenlose Bücher