Kristall der Träume
der kranken Ulme. »Alle Bäume dort sind gesund und grün.«
»Ich werde mich dort nie zurechtfinden.«
Die anderen Nonnen hatten ähnliche Befürchtungen geäußert, und Winifred selbst graute vor dem Labyrinth an Gängen, Innenhöfen und Gebäuden.
»Und ich werde nie wieder malen.« Agnes tupfte sich die Augen trocken.
»Ihr müsst Euch endlich ausruhen. Ihr habt Euer Leben lang Gott gedient. Kommt, es wird Zeit für uns.«
Sie versammelten sich im Kapitelsaal, der von einem riesigen, verrußten Kamin beherrscht wurde. Vor zweihundert Jahren hatte ihn eine besonders kälteempfindliche Priorin einbauen lassen; ihr vermögender Bruder hatte die protzige Feuerstelle bezahlt, die viel zu groß für den Raum war und ihn geradezu erdrückte. In den massiven Kaminsims waren die Worte Jesu eingemeißelt, nach denen Winifred und ihre Schwestern stets zu leben trachteten: Mandatum novum do vobis: ut diligatis invicem – »Ein neues Gesetz werde ich euch geben, dass ihr einander lieben sollt.«
Dame Mildred jammerte, weil sie ihren gewaltigen Schmortopf zurücklassen sollte. Aufgrund der ständig schrumpfenden Insassenzahl des Klosters war er seit Jahren nicht mehr benutzt worden. »So ein guter Topf«, murrte sie. »Der hat uns durch manch harten Winter gebracht. Wir sollten ihn mitnehmen.«
»Er ist zu groß, Schwester«, suchte Winifred sie zu beschwichtigen. »Wir können ihn nicht selber tragen. Vielleicht können wir ihn später holen lassen.«
Dame Mildred wirkte unentschlossen. Sie warf einen letzten sorgenvollen Blick auf ihre Küche, als würde sie ein Kind zurücklassen. Plötzlich hörten sie Rufe von draußen und Pferdegetrappel im Hof. Mit fahlem Gesicht kam Andrew hereingestürmt und stammelte etwas von einem Überfall. Als Winifred zu ihm eilte, kam ein weiterer Mann herein, das Gesicht von einem scharfen Ritt gerötet. Auf seinem Kettenhemd prangte das Emblem der Abtei, in der Hand hielt er eine Hellebarde. »Bitte um Vergebung«, stieß er atemlos hervor. »Die Wikinger haben angegriffen, und ich soll Euch und die anderen Damen zum Schutz in die Abtei bringen.«
»Wikinger! « Winifred bekreuzigte sich, und die anderen brachen in Wehgeschrei aus.
Hastig erklärte der Gardist, was geschehen war: Die Nordmänner waren in Bryer’s Point gelandet und sofort auf das Kloster des Wahren Kreuzes losmarschiert. Der Bericht war etwas lückenhaft, doch so viel stand fest: Der gesamte Komplex war verwüstet und in Brand gesteckt worden. Von den Pilgern und Schwestern wusste der Mann nicht viel zu sagen, außer, dass Oberin Rosamund die Flucht gelungen war. Sie hatte sich in die Abtei gerettet und Alarm geschlagen.
»Sie sagt, ihre Nonnen hatten Schutz in der Kapelle gesucht, und da haben die Teufel sie gefunden, alle auf einem Haufen, und niedergemetzelt wie Gänse im Stall. Und so bin ich ausgeschickt worden, Euch zu holen. Kommt rasch, uns bleibt nicht viel Zeit.«
»Aber die Abtei ist ein ganzes Stück des Weges! «, protestierte Winifred. »Werden wir unterwegs nicht auf die Nordmänner stoßen?«
»Auf jeden Fall werdet Ihr hier nicht sicher sein, Mutter Oberin.«
Der Gardist wurde ungeduldig. »Beeilt Euch! Ich werde Euch begleiten. Wir nehmen den Wagen.«
Während ihre Schwestern in Panik ausbrachen, überstürzten sich Winifreds Gedanken. Die Invasoren hatten weder die Hafenstadt noch die Abtei überfallen, sondern vielmehr ein schutzloses Kloster.
Was würde sie davon abhalten, ein zweites Mal leichte Beute zu suchen und nach St. Amelia zu kommen? Dann würden die Soldaten und ihre hilflosen Schützlinge ihnen geradewegs in die Arme laufen.
Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie hier in ihrem kleinen Kloster besser aufgehoben wären. Den Wikingern auf offener Strecke zu begegnen kam einem Selbstmord gleich, wenn sie aber in St. Amelia blieben, konnten Oswalds Soldaten die Verfolgung aufnehmen und die Eindringlinge stellen.
Winifred griff nach dem blauen Stein in ihrer Tasche und rief sich in Erinnerung, wie die heilige Amelia ihr Schicksal mutig gemeistert und sich nicht der Folter der römischen Soldaten ausgeliefert hatte. Amelia hatte mehr getan, als sich den Anweisungen eines Abtes zu widersetzen, sie hatte sich gegen die Autorität des römischen Kaisers erhoben.
»Nein«, erklärte sie unvermittelt. »Wir werden hier bleiben.« Der Gardist wollte seinen Ohren nicht trauen. »Seid Ihr nicht bei Trost?
Hört, ich habe meine Befehle und gedenke, sie auch auszuführen.
Jetzt begebt Euch
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