Kristall der Träume
blieb. Oberin Winifred lebte noch dreißig Jahre. In dieser Zeit schuf sie zahlreiche atemberaubende Bilder, Altarbilder und Miniaturen, die aufgrund des allgegenwärtigen blauen Kristalls ihr allein zugeschrieben wurden. In jenen Tagen signierten Künstler ihre Werke noch nicht.
Der Stein offenbarte sich dem Betrachter nicht immer, aber wenn man ihn suchte, fand man ihn.
Kurz nach dem Wikingerüberfall kehrte Ibn Abu Aziz Jaffar ein letztes Mal nach St. Amelia zurück. Er wollte sich bei Oberin Winifred bedanken, denn dank ihrer Warnung war er an jenem denkwürdigen Tag nicht zur Abtei (und damit in die Arme der Wikinger) gereist, sondern landeinwärts nach Mayfield, und dieser Umweg hatte ihm das Leben gerettet. Oberin Winifred vergaß das
»zweite Gesicht« ihrer keltischen Vorfahren und lud den fahrenden Händler in die Priorei ein, wo er so lange bleiben konnte, wie es ihm beliebte. Er bezog seinen Altersruhesitz in einem kleinen Häuschen, und seine getreue Seska fraß auf einer nahe gelegenen Koppel ihr Gnadenbrot. Simon Levi half gelegentlich im Kloster aus, er war bei Besuchern und Pilgern gleichermaßen beliebt und pflegte mit Oberin Winifred eine aufrichtige Freundschaft – gewöhnlich trafen sie sich einmal am Tag zu einem ruhigen Gespräch, Simon, der Jude, und Winifred, die christliche Nonne – bis zu seinem Tod vierzehn Jahre später. Obwohl er sich nie zum Christentum bekehrt hatte, bestand seine alte Freundin darauf, dass er die Sterbesakramente erhielt und in geweihter Erde begraben wurde.
Oberin Winifred fuhr mit ihrer Malerei fort, aber mit dem Alter wurden ihr Augenlicht und ihre Hände immer schwächer. Bisweilen legte sie den Pinsel nieder, dachte an den Wikinger, der einst den blauen Kristall an sich genommen hatte, und fragte sich, was aus der Kraft der heiligen Amelia geworden war.
Folgendes war geschehen: Als die Wikinger zu ihrem Schiff gelangten, brannte es lichterloh und war von Oswalds Soldaten umstellt, die die Nordmänner bis auf den letzten Mann hinschlachteten. Oswald, der sich selbst an der Plünderung der Leichen beteiligte, fand einen seltsamen blauen Stein von bestechender Schönheit. Er ließ ihn in den Griff eines Schwertes fassen, das später einen vom Unglück verfolgten Kreuzfahrer nach Jerusalem begleitete. Dort wurde der Stein aus dem Griff gestohlen und als Geschenk für den Kalifen nach Bagdad gebracht, der ihn in seinen Lieblingsturban einsetzen ließ. In einem Moment der Schwäche schenkte der Kalif den Stein einer Tempeltänzerin, die für ihn tanzte und noch in derselben Nacht mit ihrem heimlichen Geliebten floh. Der blaue Kristall wurde verkauft, erworben und erneut entwendet, bis er schließlich in den Taschen eines Kreuzritters den Weg zurück nach England machte. Der Arme war in einer Schlacht bei Jerusalem geblendet worden, und in der Hoffnung auf Heilung schloss er sich einem Pilgerzug auf dem Weg nach Canterbury an. Unterwegs wurden sie von Straßenräubern überfallen, die ihre Beute im nördlichen England verkauften. Hier wurde der blaue Kristall von einem jungen Mann in den Deckel einer Schmuckschatulle aus Perlmutt eingelassen, mit deren Hilfe er sich die Zuneigung einer gewissen jungen Dame erhoffte. Als diese jedoch den Heiratsantrag ihres Verehrers ausschlug, setzte er sich nach Europa ab, wo er sich an einem passenden Ort das Leben zu nehmen gedachte. Dort traf er auf einen Mann aus Assisi mit Namen Franziskus, der dabei war, einen Bettelorden zu gründen. Aus einem Impuls heraus schloss sich der abgewiesene Heiratskandidat diesem Orden an und verschenkte alles, was er hatte, einschließlich der verfluchten Schmuckschatulle.
Ein armer Bauer fand die Schatulle unter den barmherzigen Gaben der Franziskaner, löste den Stein aus dem Deckel und erkaufte sich damit einen Laib Brot. Als die Bäckersfrau den faszinierenden Stein sah, tauschte sie ihn für eine neue Erfindung, einen Glasspiegel, ein. Sie glaubte nämlich, ein Gegenstand, der ihr Gesicht widerspiegelte, sei wertvoller als einer, der das nicht tat.
Im Jahre 1349 raffte der Schwarze Tod ein Drittel der Bevölkerung Europas dahin, und in dieser Zeit wurden dem blauen Kristall sieben Todesfälle und sechs Heilungen zugeschrieben, während er von Hand zu Hand wanderte, vom Erblasser zum Erben, vom Patienten zum Arzt. Ungefähr hundert Jahre später, als eine junge Frau namens Johanna in Frankreich wegen Ketzerei den Tod auf dem Scheiterhaufen erlitt, wurde ein Mann in der gaffenden Menge
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