Kristall der Träume
herrlich duftende Seifenriegel herzustellen. Die großzügig bestückte Küche, fünfmal so groß wie die in St. Amelia, roch angenehm nach Holz und frischem Kalkanstrich. Beim Anblick des gedeckten Mittagstisches gingen Winifred die Augen über: ein ganzer Hammel, dicke Scheiben von Rindfleisch, knuspriges Brot, Fässer mit Ale und Wein. Als Rosamund ihr einen gefüllten Teller reichte, erklärte Winifred, sie hätte bereits gegessen, würde aber, um die Gastgeberin nicht zu kränken, das Essen in ein Tuch einschlagen und für später aufheben. In Wahrheit würde sie diese Schätze mit ihren Schwestern teilen, die seit langem nichts Gutes mehr gekostet hatten.
Nach dem Essen wurde sie zu der großen Kapelle geführt, wo die Pilger – Rittersleute und Arme, noble Herren und Geistliche, die Kranken und die Lahmen – in einer langen Schlange warteten, um vor dem prächtigen Schrein des Wahren Kreuzes zu beten. In dieser Kirche gab es etwas, das Winifreds kleiner Kapelle fehlte: bleigefasste Buntglasfenster. Und erst das Gold! So viele Kerzen, schneeweiß und gerade. Und das alles für ein Stück Holz, während die Gebeine einer realen Frau, die einst um ihres Glaubens willen den Märtyrertod erlitten hatte, an einem bescheidenen Ort mit schiefen, rußenden Kerzen aufbewahrt wurden. Dieser Kontrast machte Winifred nicht verbittert, nur traurig. Am liebsten hätte sie die heilige Amelia in die Arme genommen und ihr zugeflüstert: »Das hier mag vielleicht schöner sein, aber du wirst mehr geliebt.« Und schließlich verfügte dieser Konvent auch noch über eine Krankenstation. Acht Betten und eine geschulte Pflegerin standen den Kranken zur Verfügung. Beim Anblick der Medizinschränke wurde Winifred fast neidisch: all diese Tinkturen und Lotionen, Salben und Pasten, Pillen und Pülverchen. Verschiedene Phiolen mit Augenwässern. Heilmittel für Arthritis. Hagebuttentee für Nierenleiden. Angesichts dieses üppigen Angebots überschlugen sich Winifreds Gedanken. Schwester Ethel würde ein eigenes necessarium gleich neben ihrem Zimmer haben und wäre des Nachts nicht mehr auf Begleitung angewiesen; der junge Bursche im Garten würde jederzeit Wasser aus dem Brunnen holen, und Dame Oldelyn brauchte sich nicht mehr zu ängstigen…
Mit einem tiefen Seufzer musste Winifred sich eingestehen, dass dieser Ort das Paradies für ihre ältlichen Schwestern wäre. Sie würden genug zu essen haben und versorgt sein. Da spielte es keine Rolle, dass sie keine Pflichten mehr hatten. Seelenfrieden und Bequemlichkeit waren wichtiger.
Man hatte ihr angeboten, die Nacht im Gästequartier auf einer mit Eiderdaunen gefüllten Matratze zu verbringen, aber Winifred wollte noch vor der Dunkelheit nach Hause kommen. Sie dankte Oberin Rosamund für ihre Gastfreundschaft und eilte, so rasch es sich geziemte, aus dem Kapitelsaal und dem Kloster. Am Hauptweg angekommen, setzte sie sich unter eine ausladende Buche und zog im Schatten des Baumes den blauen Kristall hervor. Während sie auf den Stein in ihrer Hand blickte, der im durch die Blätter sickernden Sonnenlicht aufblitzte, dämmerte in Winifred die Erkenntnis, dass der Kristall gar kein Zeichen war und keine Botschaft von Amelia enthielt. Auch seine Entdeckung hatte keinerlei Bedeutung. Es war ein Zufall gewesen, nichts weiter. Sie würde mit ihren Ordensschwestern in das neue Kloster ziehen, um dort bis ans Ende ihrer Tage zu leben. Sie würde ihr Bestes geben, die Novizinnen in der Kunst des Illuminierens zu unterweisen, allerdings würde es ihr an Virtuosität mangeln, denn sie spürte bereits, wie ihre schöpferische Kraft sie verließ. Die Gabe, die ihr die heilige Amelia vor vielen Jahren verliehen hatte, erschöpfte sich nun. Winifred würde jetzt nur eine gewöhnliche Buchmalerin sein; sie würde gewöhnlichen Mädchen beibringen, wie man gewöhnliche Bilder herstellte. Vor allem aber würde sie ihre närrische Vorstellung, einmal ein prächtiges Altarbild zu schaffen, ein für alle Mal vergessen. Zurück in ihrem alten Kloster wollte sie als Erstes den blauen Stein an seinen angestammten Platz zurücklegen und den Schrein versiegeln.
Wie versprochen, kam Ibn Jaffar nach drei Tagen zurück. Und Winifred konnte ihn bezahlen, denn sie hatte ihr letztes Wertstück verkauft, einen wunderschönen Wandteppich mit einem Einhorn darauf, der im Kapitelsaal gehangen hatte. Wer brauchte diesen Wandteppich noch, wenn St. Amelia geschlossen wurde? Es tat ihm sehr Leid zu hören, dass sie ihr
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