Kristall der Träume
zurückkehren und mit welcher Begeisterung sie dort empfangen würde, weit gereist und ob ihrer Klugheit geschätzt. Sie wusste bereits genau, wie sie den Torbachern Jerusalem schildern würde, die prachtvollen Kirchen, die dort in Reih und Glied standen, alle Bewohner fromm und religiös, alle sprachen Latein und teilten ganz selbstverständlich ihre Segnungen aus. Und alle Torbacher würden kommen und sie, die Welterfahrenste, um Rat bitten, sogar Pater Benedikt, dessen einziger Anspruch auf Ruhm in einer einmaligen Reise nach Rom bestand. Aber in Jerusalem, wo Jesus höchstpersönlich durch die Straßen gewandert war, war er nie gewesen.
Die Tage vergingen, und der Horizont dehnte sich in immer neue Weiten. Katharina wurde schrecklich seekrank, doch Doktor Mahmoud linderte ihre Beschwerden mit einer Arznei aus Ingwerwurzeln. Unbehagen bereitete ihr auch die Art und Weise, wie die Seeleute sie anstarrten, ständig wurde sie von unergründlichen Blicken verfolgt. Schon lange hatten sie auf ihrer Fahrt kein Land mehr gesehen, und in Katharina machte sich langsam eine gewisse Panik breit. Trost fand sie in dem Miniaturgemälde, das sie häufig aus ihrer Ledertasche unter ihrem ägyptischen Gewand hervorzog. Sie legte die Miniatur in ihre hohlen Hände und heftete ihren Blick auf den blauen Kristall. Was hatte er nur an sich, dass ihr Vater seinetwegen seine winzige neugeborene Tochter verließ? Ob er den Kristall letztendlich gefunden hatte?
Besaß der Kristall etwa eine solche Macht, dass er das Gedächtnis ihres Vaters ausgelöscht hatte, sodass er seine Verpflichtung vergaß, die ihn an Deutschland band? Katharina wünschte, sie könnte auch den Bierkrug an sich drücken, den Hans ihr geschenkt hatte, denn in dieser ungewohnten, Furcht einflößenden Umgebung sehnte sie sich nach einem vertrauten Gegenstand, es würde ihr gut tun, ein Stück Torbach unter ihren Fingern zu spüren. Doch der Krug steckte mitten in ihrem Kleiderbündel, gut geschützt zwischen den Falten ihrer Röcke und ihren Miedern, Umschlagtüchern und Schals, damit er ja nicht zu Bruch ginge. Sie könnte ihn erst wieder auspacken, wenn sie ihre Unterkunft in Jerusalem erreicht hätte. Das Haus ihres Vaters?
Sie würden gemeinsam den Willkommenstrunk aus diesem Krug trinken, und ihrem Vater, dem deutschen Edelmann, den es so weit weg von der Heimat verschlagen hatte, kamen beim Anblick des prächtigen Bierkrugs bestimmt die Tränen.
Eine Woche, nachdem sie von Venedig losgesegelt waren, zog der Sturm auf.
Die Hälfte der Mannschaft wollte das Großsegel hissen, die andere Hälfte war dagegen, weil der Wind immer stärker wurde. Ein Streit entbrannte, man beschloss, das Segel zu hissen, aber da war es schon zu spät, der Stoff riss mittendurch. Alle Feuer wurden gelöscht: der Ofen des Schiffskochs und sämtliche Laternen. Der Seegang wurde immer heftiger. Doktor Mahmoud und Katharina hielten einander umklammert. Plötzlich ertönte ein Donnerschlag, Blitze zuckten, Regen prasselte nieder. Der Sturm nahm an Gewalt zu, bis der Hauptmast mit einem unheimlichen Knacken barst und aufs Deck krachte. Die Matrosen fielen auf die Knie und begannen laut zu beten. Riesige Wellen türmten sich auf, brachen über die Reling und überfluteten das Deck. Fässer und Ballen wurden aus ihren Verankerungen gerissen, polterten hin und her und wurden schließlich über Bord gespült. Die Fluten verschlangen das Schiff und spien es im nächsten Moment wieder aus. Als Spielball des Unwetters wurde es abwechselnd in die Höhe und in die Tiefe geschleudert, samt seiner zerbrechlichen Ladung von Waren und Menschen, die schrien, beteten und sich um ihres lieben Leben willens an allem, was festen Halt versprach, festkrallten.
Als Katharina zu sich kam, fand sie sich an einem sandigen Ufer wieder, tropfnass, mit Seetang in den Haaren. Der Himmel war grau, aber es fiel kein Regen, das Meer brodelte zornig wie flüssiges Metall, überall weiß von Schaumkronen, auf den Wellen trieben Holzplanken und Segelfetzen. Katharina blickte sich an dem einsamen Ufer um und entdeckte, verstreut zwischen den Dünen, ein paar Bruchstücke des Schiffs und seiner Ladung, aber keine Menschenseele.
Mühsam rappelte sie sich hoch und hielt bestürzt Ausschau nach dem Schiff, nach der Mannschaft – wo waren sie denn alle abgeblieben? »Doktor Mahmoud!«, rief sie. Die einzige Antwort war das spöttische Pfeifen des Windes. Mit unsicheren Schritten stolperte sie den Strand entlang,
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