Kristall der Träume
kletterten im Tauwerk herum, als der alte Muslim, sein Enkel und der Ordensritter über die Landungsbrücke zum Schiff hochstiegen. Ihr Schiff segelte unter portugiesischer Flagge; es hatte gerade eine Ladung Elfenbein aus Afrika gelöscht und fuhr jetzt nach Indien, den Laderaum voller Kupferbarren für die Kupferschmiede in Bombay. Die Abreise verzögerte sich, da der Kapitän die Umlagerung eines Teils der Ladung anordnete. Wenn die Ladung bei voller Fahrt ins Rutschen geriete, drohte ein Schiffbruch. Als das Kupfer schließlich tief genug verstaut war, um den Rumpf zu stabilisieren, gab er den Befehl, die Segel zu hissen. Gemeinsam mit seiner Mannschaft sprach er ein Gebet, und Katharina spürte den tiefen Ernst in ihrem Vaterunser, denn eine Fahrt übers Meer war zwar die schnellste Art des Reisens, aber auch die gefährlichste. Dann spielten zwei Halbwüchsige auf der Flöte und auf der Trommel, während sich die Matrosen im Rhythmus der Melodie, der das gemeinsame Arbeiten erleichterte, an den Seilen und Winden zu schaffen machten. Schließlich segelten sie aus der Lagune aufs offene Meer hinaus. Katharina stand am Bug und hielt ihr Gesicht dem Wind entgegen; sie dachte nicht an die Menschen und das Städtchen, das sie hinter sich ließ, sondern an die Familie, die sie irgendwo in einem unbekannten Land erwartete.
Sie schliefen wie die Seeleute in Hängematten, die im Bauch des Schiffes zwischen der Ladung festgemacht waren. Der Raum war äußerst knapp, sie mussten ihre Mahlzeiten an einem winzigen, zwischen zwei Kanonen eingezwängten Tischchen einnehmen. Falls es das Wetter erlaubte, verbrachten die Passagiere die meiste Zeit an Deck, an der frischen Luft.
Katharina stellte alle möglichen Spekulationen über ihren Retter an, denn obwohl er sich ständig in ihrer und Doktor Mahmouds Nähe aufhielt und durch seine eindrucksvolle Präsenz kundtat, dass sie unter seinem Schutz standen, nahm er sonst keinen Anteil an ihnen.
Ihr fiel auf, dass er weder Fleisch noch Wein anrührte – ob das wohl mit den Gelübden zusammenhing, die er für seine Bruderschaft abgelegt hatte? Zum Beten ließ er sich auf ein Knie nieder und hielt sein Schwert mit beiden Händen so vor sich auf den Boden gestützt, dass der Griff als Kreuz vor ihm aufragte. Er wirkte wie ein tief religiöser Mensch. Aber auch wie ein tief verstörter.
Es gab Linien in seinem Gesicht, die sie erst für Spuren der Weisheit und Erfahrung gehalten hatte. Aber dann kam ihr der Verdacht, der Schmerz hätte sie dort eingegraben. Und dieser Ausdruck der Sehnsucht, wenn er stundenlang aufs Meer hinausstarrte. Was sah er dort? Was suchte er? Adriano sah zu, wie die Sonne unterging, wie der Himmel immer dunkler wurde und einer nach dem anderen die Sterne aufgingen; er starrte nach oben, als wollte er dort eine Botschaft entziffern. Er hüllte sich in Schweigen wie in seinen Rittermantel, mauerte sich darin ein. Wollte er nichts an sich heranlassen oder nichts hinauslassen? Noch nie hatte sich Katharinas Neugier auf das Innenleben einer Person gerichtet. Sie hatte nie wissen wollen, was Hans dachte, hatte nie seine Tiefen ausloten wollen. Was ihr an der Oberfläche entgegentrat, nahm sie als die ganze Person. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass darunter Geheimnisse und Leidenschaften brodeln könnten. Nun aber konnte sie nicht aufhören, über diesen rätselhaften Fremden nachzugrübeln, der nicht in dieser Welt, sondern in seiner inneren Seelenlandschaft zu leben schien.
Sie stutzte, wunderte sich über ihre eigenen Gedanken. Es kam ihr vor, als wären es die klugen, überlegenen Gedanken einer Erwachsenen. Nachdem sie Hunderte von Meilen gereist war, so viele Städte und Menschen gesehen hatte und sich jetzt auf der Weite des Meeres befand, kam sie sich plötzlich gereift vor. Auf der Bernsteinstraße hatte sie ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert und fühlte sich nun nicht mehr als Mädchen, sondern als Frau. Sie war überzeugt, nun zu wissen, wie das Leben sei, eine Vorstellung, die ihr ausgesprochen gefiel. Sie hatte in so kurzer Zeit so vieles durchgemacht, ihre Mutter verloren und die Wahrheit über ihre Geburt und ihre Herkunft erfahren, und nun segelte sie mitten im adriatischen Meer – Katharina war sicher, sie hätte damit den größten Teil der Welt gesehen. Sie dachte an Jerusalem und an die dramatische Begegnung mit ihrem Vater und ihrer Familie, die dort stattfinden würde, und stellte sich weiter vor, wie sie nach Torbach
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