Kristall der Träume
sind unerforschlich. Wir können keine Vermutungen darüber anstellen.
Wir müssen seinem Gebot folgen. Er hat uns verschont, Senorita, aus uns unbegreiflichen Gründen. Der Verzweiflung nachzugeben bedeutet, sich Gottes Willen zu widersetzen. Um Gottes willen müsst Ihr am Leben bleiben.« So viel hatte er schon seit Tagen nicht mehr gesprochen, und allein das Aussprechen dieser Worte schien seine Kräfte wiederzubeleben. Katharina weinte noch lange, und obwohl sie immer noch das Gefühl hatte, im Grunde hätte sie mit Doktor Mahmoud sterben sollen, unternahm sie keinen weiteren Versuch, sich das Leben zu nehmen. Sie aß und trank ein wenig und lief am schmalen Saum des Ufers entlang, die Augen auf den fernen Horizont gerichtet. Dabei begriff sie, dass sie und Adriano ohnehin so gut wie tot waren.
Sie schliefen dicht beieinander, um sich zu wärmen, und morgens beim Aufwachen spürte Katharina den Arm des Ritters um ihre Schultern, seinen drahtigen Körper und den ruhigen Schlag seines Herzens unter ihrem Kopf, der auf seiner Brust ruhte. Sie stützte sich auf und musterte sein Gesicht in der fahlen Morgendämmerung, sah den Sand und die Salzkristalle in seinen dichten braunen Wimpern, seinen Augenbrauen und dem kurz geschnittenen Bart. Sie fragte sich, welche unruhigen Träume seine Augen hinter den Lidern hin-und herzucken ließen. Welche Leidenschaften trieben ihn dazu, am Leben zu bleiben und auch sie am Leben zu erhalten? Ohne Adriano hätte sie sich mit Sicherheit umgebracht. Dann erinnerte sie sich, wie sie selbst letzte Nacht schreiend aufgewacht war, Adriano hatte sie in seinen Armen gewiegt und getröstet. Warum sie geschrien hatte? Sie hatte vom Ertrinken geträumt. Zum ersten Mal seit Tagen kam die Sonne heraus, die Wolken lösten sich auf, und das Meer funkelte hier und da. Adriano gelang es, mit einem Speer im seichten Wasser ein paar Fische zu erlegen, während Katharina erneut das Ufer abgraste und tatsächlich noch ein Wasserfass ihres untergegangenen Schiffs fand. Wie lange könnten sie wohl auf einer Insel überleben, auf der kein einziger Baum wuchs? Außer Fisch und Meeresfrüchten hatten sie nichts zu essen. Kein Vogel kam hierher. Kein Grün konnte in den Felsspalten Wurzeln schlagen. Ihr kam der Gedanke, ob es für einen Mann und eine Frau überhaupt schicklich wäre zusammenzuleben, ohne getraut zu sein. Berücksichtigte die Kirche beim Erstellen des Sündenkatalogs auch Schiffbrüchige?
Die Schönheit des Sonnenuntergangs erschien wie reiner Hohn, denn langsam wurde klar, dass der Sturm das Schiff offenbar weit vom Kurs abgetrieben hatte, sodass kein anderes Schiff vorbeiziehen und auf sie aufmerksam werden würde. Endlich fand Adriano Stimme und Sprache wieder: »Warum wollt Ihr überhaupt nach Jerusalem?«, fragte er, während er das Feuer schürte. Katharina flocht sich gerade ihre langen, immer noch braunen Haare, aus denen das Salzwasser die Farbe nicht hatte herauswaschen können. Und nun erzählte sie ihm ihre Geschichte und schloss mit den Worten:
»Daher mache ich mich auf die Suche nach meinem Vater.«
»Nach einem Mann, der Euch im Stich gelassen hat?«
»Das war sicher nicht seine Absicht. Er hatte fest vor, mich zu sich zu holen.«
»Aber dieser junge Mann, den Ihr erwähnt habt, Hans Roth. Den hättet Ihr doch heiraten und in Wohlstand leben können. Das alles wollt Ihr aufs Spiel setzen?«
Ruhig erwiderte sie seinen Blick. »Vielleicht ist mein Vater verwundet worden oder grausamen Menschen in die Hände gefallen.
Es ist meine Pflicht, ihn zu finden.«
Katharinas Antwort gab Adriano zu denken. Das hatte er nicht erwartet – von einer Frau. Adriano misstraute den Frauen. Nur eine einzige Frau hatte er in seinem Leben geliebt, und als sie ihn mit einem anderen betrog, schwor er sich, niemals mehr zu lieben und niemals mehr einer Frau zu glauben. Als er dann in die Marienbruderschaft eintrat und Keuschheit gelobte, löschte er die Frauen ganz aus seinem Herzen.
Katharina deutete auf das blaue Kreuz, das in Brusthöhe auf sein weißes Wams gestickt war, und fragte: »Seid Ihr ein Priester?« Er sah sie verblüfft an, dann besänftigte ein Lächeln seine Züge. »Nein, nein, Senorita. Ich bin nur ein Diener Gottes.« Dann schwieg er wieder und starrte finster in die Flammen. Plötzlich brach es aus ihm heraus: »Ich habe einen Mann getötet, der nicht mein Feind war, und das Leben einer Frau zerstört. Einen Tag und eine Nacht lang lag ich vor dem Altar und flehte die
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