Kristall der Träume
schleifte ihre zerrissene Galabeya im nassen Sand nach, bis sie auf eine Leiche stieß. Es war der Kapitän, an dem sich bereits die Krebse gütlich taten. Ein Stück weiter fand sie Reste einer Holzkiste, von deren Inhalt nicht viel übrig geblieben war.
Daneben steckte im Sand eine weiße Steingutscherbe. Sie zog sie heraus und wischte sie sauber. Es war ein Bruchstück des Bierkrugs, den Hans ihr geschenkt hatte. Sofort suchte sie nach weiteren Stücken, fand aber nichts mehr. Immer noch betäubt vom Schock wiegte Katharina die ovale Scherbe in ihrer Hand – das Miniaturbild des zwischen den Hügeln eingebetteten Städtchens Torbach.
Da fiel ihr Blick auf eine Gestalt, die mit wehendem Mantel über den Sand hastete. Don Adriano! Katharina rannte los, ruderte mit den Armen und schrie seinen Namen, stolperte immer wieder über den Saum ihrer zerrissenen Galabeya.
»Gott sei gelobt!«, rief er, als sie einander erreichten. Sie fiel ihm schluchzend in die Arme. Er hüllte sie in seinen feuchten Mantel, und gemeinsam zitterten und weinten sie, bis er sie schließlich auf die Knie niederzog; beide schickten Dankgebete für ihre Rettung zum Himmel.
»Wo sind wir?«, fragte sie dann. Ihre Lippen waren aufgesprungen und mit Salz verkrustet.
Don Adriano sah auf den trüben Ozean hinaus, der mit dem Horizont verschmolz. »Ich habe keine Ahnung, Senorita.«
»Habt Ihr Doktor Mahmoud gesehen?«
Trauer verdunkelte seine Augen, als er antwortete: »Ich sah ihn in den Fluten versinken. Ich habe noch versucht, ihn zu fassen, aber er war schon zu tief untergetaucht. Es tut mir sehr Leid.« Wieder weinte sie, kauerte sich in den Sand und zog die Knie an die Brust.
Don Adriano wickelte seinen Mantel um sie und machte sich auf die Suche nach trockenem Feuerholz.
Es dauerte eine Weile, bis Katharina sich an das Miniaturgemälde von der heiligen Amelia erinnerte. Sie stieß einen Freudenschrei aus, als sie entdeckte, dass es immer noch in der wasserdichten Tasche um ihren Hals steckte, und als sie es im Flammenschein des von Don Adriano mühsam entfachten Feuers herauszog, erweckte das tröstliche Bild der Amelia und des blauen Kristalls neue Hoffnung in ihr.
Adriano erkundete die Umgebung: Sie befanden sich auf einer Insel, die kaum größer war als ein aus dem Meer ragender Felsen; es gab hier weder Tiere noch Pflanzen. Doch er fand ans Land gespülte Wasserfässer und genug trockenes Holz, um das Feuer am Leben zu erhalten. Gemeinsam mit Katharina grub er nach Krebsen und anderen Schalentieren, die sie zwischen heißen Steinen und Seetang garten.
Der Himmel verdunkelte sich, die Sonne war untergegangen, doch Wolken verhüllten die Sterne, und vom Meer zog Nebel heran.
Don Adriano schüttete einen kleinen Wall rings um die Feuerstelle auf, was das Feuer zum Lodern brachte. Wie in Trance starrte Katharina in die Flammen. Ihr stand das Bild Doktor Mahmouds vor Augen, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte: auf die andere Seite des Decks gespült, sodass ihm der Turban vom Kopfe flog, einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht. Sie dachte an die vielen Wochen, die sie zusammen gereist waren, an seine sanfte Geduld, an alles, was er sie gelehrt hatte. Sie hatte gehofft, sie könnte ihn überreden, zusammen mit ihr in Jerusalem zu bleiben, anstatt nach Kairo weiterzuziehen, denn der arabische Arzt war ihr so vertraut wie sonst nur ein Blutsverwandter. Sein Tod brach alte Wunden auf.
Katharina schlug die Hände vors Gesicht und weinte nicht nur um Doktor Mahmoud, sondern auch um ihre Mutter, um die Mutter, die sie geboren hatte, um den Kapitän und um die Mannschaft des portugiesischen Schiffs.
Im Lauf der nächsten Tage wurden noch mehr Leichen angespült.
Das gestrandete Paar verhalf ihnen zu einem christlichen Begräbnis, wobei Adriano sich immer weiter in sein Schweigen zurückzog und Katharinas Trauer und Verzweiflung wuchsen. Eines Morgens stieß sie auf die aschgraue Leiche eines der Jungen, die auf dem Schiff geflötet und getrommelt hatten. Das ging über ihre Kräfte - so konnte sie nicht weiterleben. Überzeugt davon, dass ihre Rettung nur ein unseliger Zufall war, dass sie eigentlich mit Doktor Mahmoud auf dem Meeresgrund liegen müsste, watete sie in die Brandung hinaus, um sich in den Wogen zu ertränken. Doch Adriano rannte ihr nach und brachte sie nach einem kurzen Gerangel zurück ans Land. Er setzte sie in den Sand, fasste sie an den Schultern und stieß mit leidenschaftlich bewegter Stimme hervor: »Gottes Wege
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