Kristall der Träume
der Hand an sie legte; auch ihren Begleiter wollte er in gutem Zustand an Land bringen, denn er wusste nur zu gut, dass die Türken jedem Kreuzritter einen ganz speziellen Foltertod vorbehielten.
Statt also ihre Reise nach Osten in Richtung Jerusalem und zum blauen Kristall der heiligen Amelia fortzusetzen, sah sich Katharina einem plötzlichen Kurswechsel ausgesetzt: Die Karavelle richtete ihren Bug nach Norden und segelte Konstantinopel entgegen, dem Zentrum des osmanischen Reiches.
»Wohin bringt Ihr uns? Bitte, ich muss unbedingt nach Jerusalem! Wenn Ihr Geld wollt, mein Vater… «
Katharinas flehentliche Bitten stießen auf taube Ohren. Mit Ketten gefesselt und von niemandem beachtet, kauerte sie in tiefster Bestürzung an ihrem Platz und betete nur, dass Adriano in Sicherheit wäre und dieser Albtraum bald ein Ende hätte. Die griechische Karavelle hatte die namenlose Insel in der Hoffnung angelaufen, dort ihre Trinkwasservorräte aufzufüllen. Nun hockte Katharina angekettet unter Deck und trieb einem ungewissen Schicksal entgegen; sie wusste nicht, ob sie Gott für ihr Glück danken oder ihr Pech verfluchen sollte. Sie waren zwar keine Gestrandeten mehr, saßen dafür aber auf einem Sklavenschiff fest. Doch ohne die griechische Karavelle wären sie und Adriano womöglich nie gefunden worden und auf der Felseninsel langsam verdurstet.
Als die Karavelle in den Hafen von Konstantinopel einlief, war ihr Laderaum voll gepackt mit menschlicher Handelsware, von Kindern bis zu älteren Menschen aller Nationalitäten und Sprachen, denn unterwegs hatte das Schiff viele Male Halt gemacht, um Sklaven für den Sultan zu kapern, zu entführen, zu rauben oder zu kaufen. Auf der ganzen Fahrt war Katharina mit den anderen in der lichtlosen, stinkenden Enge des Schiffsbauchs eingesperrt gewesen, bei wenig Wasser und kargem Essen, ohne Verbindung zur Außenwelt, fürchterlich seekrank und überzeugt, dass sie sterben müsse. Adriano sah sie erst wieder, als sie im geschäftigen Hafen ans Tageslicht gezerrt wurden. Obwohl die Sonne sie blendete, entdeckte sie ihn angekettet in einer Reihe jämmerlich aussehender Männer, von denen er sich durch seine Größe und Haltung abhob. Adriano war halb nackt und sah aus, als wäre er misshandelt worden, doch hielt er sein Haupt immer noch hoch erhoben, und sie beobachtete, wie er sich niederbeugte, um einem ins Stolpern geratenen Mitgefangenen aufzuhelfen. Ihre Blicke trafen sich. Katharina versuchte ihm ein Zeichen zu geben, doch Peitschen trieben sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander, und Katharina sah ihn in einer bunten, lärmenden Menge verschwinden.
Die Sonne und die frische Luft trugen wenig dazu bei, ihre Kräfte wiederherzustellen. Ihr gefärbtes Haar war verfilzt und wimmelte vor Ungeziefer, ihre Galabeya von Erbrochenem besudelt; barfuß stolperte sie mit ihren weinenden und wehklagenden Leidensgenossinnen über glühend heiße Pflastersteine. Es war nicht weit bis zum Kaisertor, einem eindrucksvollen Triumphbogen aus weißem Marmor, hundert Meter vom Hippodrom und der Hagia Sophia entfernt, jener in eine Moschee umgewandelten Basilika. Das Kaisertor stand allen offen; zur Abschreckung waren dort an einem Seil die verwesenden Köpfe von Verbrechern aufgehängt. Durch dieses massive Stadttor strömten Menschen aller Art, vom höchsten Würdenträger bis zum niedrigsten Dienstboten, Muslime und Christen, Einheimische und Fremde, alle unter dem wachsamen Blick der grimmigen, mit Krummsäbeln, Speeren und Pfeilen bewaffneten Wächter.
Die Aufseher trieben die Frauen und Mädchen mit Peitschen in einen kleineren Hof, der von schwarzen Männern mit Piken bewacht wurde. Dort riss man den Gefangenen die Kleider vom Leib, nackt und zitternd standen sie in der Sonne. Katharina protestierte mit einem Schrei, als ihr Bruder Pastorius’ Ledertasche vom Hals gezerrt wurde, die Tasche, die neben der Miniatur der heiligen Amelia nun auch die Keramikscherbe mit der Stadt Torbach enthielt. Diese Scherbe war ihr »Stückchen Deutschland«, ein Stück Steingut, hergestellt aus heimatlicher Erde, von vertrauten Händen geformt und liebevoll bemalt. Dort befand sich ihr Herz, wo immer sie sich aufhalten mochte. Doch nun war ihr dieses Torbach entwendet worden, zusammen mit dem Gemälde, das ihrem Vater beweisen würde, wer sie war. Wie sollten diese Dinge je wieder in ihren Besitz gelangen? Eine Furcht einflößende Frau erschien auf dem Platz. Sie balancierte auf sehr hohen
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