Kristall der Träume
nach zu urteilen, musste es ein amerikanischer Schoner sein, der zudem noch über geringen Tiefgang verfügte, um durch die seichten Gewässer in so eine kleine Bucht zu segeln.
Brigitte furchte die Stirn. Warum lag das Schiff hier vor Anker?
Ihr Blick wanderte über den Hauptmast, die Spieren und die Takelage, bis sie die Flagge erkannte. Ein Piratenschiff! Diese Flagge war nicht zu verkennen, gewöhnlich trug sie einen Totenschädel mit gekreuzten Knochen, diese Piratenflagge jedoch trug ein in Blut getauchtes Enterbeil. »Mon Dieu!« Brigitte wusste sofort, das war die Bold Ranger, das Piratenschiff des blutrünstigen Christopher Kent. Das Schiff schien verlassen, sie konnte keine Mannschaft an Bord entdecken. Panik überkam sie. Wo waren die Leute? Sie hatte von Kents Methode gehört – er pflegte unerwartet und brutal zuzuschlagen und war gewöhnlich mit seiner Beute verschwunden, noch ehe die Opfer sich wehren konnten.
Wie gebannt starrte Brigitte wieder durch das Fernrohr, schwenkte es über die Hügel zwischen der Bucht und der Plantage, einer Entfernung von gut zwei Meilen. Irgendwo da in dem dichten Grün steckten Henri und seine Männer und inspizierten das Zuckerrohr. Aber sie konnte sie nirgends entdecken.
Christopher Kent war der Albtraum aller Pflanzer. Wie man sich erzählte, begnügte er sich nicht damit, Schiffe zu überfallen, er setzte seine Attacken auch an Land fort. Aus Angst vor Überfällen hielten alle Plantagenbesitzer ihr Vermögen irgendwo auf ihrem Besitz versteckt. Kent wusste das. Er kam gewöhnlich bei Nacht, schnappte sich die wehrlosen Opfer und presste das Versteck ihres Goldschatzes aus ihnen heraus. Notfalls mit Gewalt.
»Lieber Gott«, wisperte Brigitte mit trockenem Mund. »Lass sie nicht hierher kommen.«
Und dann entdeckte sie sie – Piraten, die hügelan kletterten, Aufseher und Sklaven durch die Zuckerrohrfelder trieben, Henri von seinem Pferd stießen…
»Colette, hol meine Muskete!« Brigitte wusste, dass sie auf diese Entfernung nicht treffen würde, aber vielleicht konnte sie Warnschüsse abgeben. Sie fragte sich, ob die Soldaten im Fort die Piraten bemerkt hatten. Was sie bezweifelte. Kent hatte sich auf der dem Wind abgewandten Seite der Insel angeschlichen und in die kleine Bucht gestohlen. Das Plateau mit der Bellefontaine-Plantage lag hinter zwei Bergkämmen verborgen. Die Piraten würden zuschlagen, ihr tödliches Werk rasch und leise vollenden, wie Geister entschwinden und nur Leichen und schwelende Ruinen hinterlassen. Mindestens ein Tag würde vergehen, bis die Soldaten von dem Überfall Kenntnis erhielten, und zu dem Zeitpunkt segelte Kents Schiff schon weit draußen auf dem Meer.
»Was gibt’s, Madame?« Eine junge Schwarze kam atemlos, die lange Schusswaffe ungeschickt schulternd, die enge Treppe heraufgeeilt. Colette gehörte zu den afrikanischen Sklaven der dritten Generation, sie und ihre Mutter waren auf Martinique geboren. Anders als ihre Großmutter, die das Schicksal von Tausenden anderer Sklaven erlitten hatte und von Afrika auf die Insel verschleppt worden war, um für die französischen Siedler auf den Zuckerrohr- und Tabakfeldern zu arbeiten.
»Schick Herkules zum Fort«, befahl Brigitte, während sie versuchte, die Piraten ohne Fernrohr auszumachen. Doch die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, und es wurde dämmrig. »Sag ihm, er soll sich beeilen, Colette! Sag ihm, Piraten…! « Und dann sah sie ihn durch das Fernrohr, Christopher Kent, eine hoch gewachsene, bedrohliche Gestalt ganz in Schwarz.
Er trug enge Kniehosen und einen langen Schoßrock, die goldenen Knöpfe seiner Weste schimmerten im letzten Tageslicht. Sein Gesicht wurde von einem breitkrempigen Dreispitz beschattet, an dem eine buschige weiße Feder steckte. Und als er sich nun umwandte und sein Gesicht zum Teil erhellt wurde, erkannte Brigitte zu ihrem Schrecken den Liebhaber aus ihren Träumen.
Sie überlegte fieberhaft. Das Fort lag zehn Meilen entfernt. Es ging über bergiges Gelände, in der hereinbrechenden Nacht würden die Wege durch den Dschungel von der Dunkelheit verschluckt werden, und ein Läufer hätte keine Chance. Die Piraten hatten Fackeln angezündet. Brigitte verfolgte mit bangem Herzen, wie der Fackelzug sich unerbittlich den Berg hinaufschlängelte.
Nach einem letzten Blick durch ihr Fernrohr auf Kent – er war kaum noch zu erkennen, ein Phantom, das wie ein Konquistador durch die üppige Vegetation strich – setzte Brigitte die
Weitere Kostenlose Bücher