Kristall der Träume
hatte zu viel Muße, es gab zu viel Sonne, tropische Düfte und laue Passatwinde. Henri war mit seinen Zuckerrohrfeldern, der Fabrik und der Rumbrennerei vollauf beschäftigt. Aber was gab es für eine Dame auf den Inseln zu tun, wenn die Kinder aus dem Haus waren und die Bediensteten sich um alles kümmerten? Brigitte war eine begeisterte Leserin, doch seit geraumer Zeit schlug sich ihre Unzufriedenheit auch auf ihren bevorzugten Lesestoff nieder: tragische Liebesgeschichten, wie die von Abélard und Heloïse, Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Antonius und Kleopatra. Sie verschlang diese bittersüßen Liebesromanzen wie andere Leute kandierte Früchte. Die einzig wahre Traurigkeit, befand sie, war die süße Traurigkeit. In ihren Träumen mussten sie und ihr Geliebter ebenfalls getrennte Wege gehen, und dieser süße Schmerz half ihr durch manch trüben Nachmittag.
Sie redete sich ein, dass Träume weitaus befriedigender seien als die Wirklichkeit und zudem sicherer, barg doch die Realität oft genug Gefahren. Die Insel Martinique mochte zwar ein tropisches Paradies sein, doch drohten auch hier Gefahren – von plötzlichen, verheerenden Stürmen, von dem Vulkan Mont Pelée, vom Tropenfieber und exotischen Krankheiten und, am schlimmsten, von Seeräubern. Erst heute Abend, als die Gespräche sich einmal nicht um den Preis von Rum und Sklaven drehten, war die Rede auf die Piraterie im Allgemeinen und auf einen Engländer namens Christopher Kent im Besonderen gekommen. Wie einer der Gäste, ein Ananasbauer, zu berichten wusste, war er selbst erst vor wenigen Tagen durch Kent erheblich geschädigt worden, als dieser mit seinem Schoner, Bold Ranger, das Handelsschiff des Mannes geentert, die Mannschaft über Bord geworfen hatte und mit einem Vermögen an Goldmünzen davongesegelt war. Keiner vermochte zu sagen, wie Kent aussah, wenngleich die wenigen Überlebenden ihn als hünenhaften Teufel beschrieben.
Unvermittelt explodierte die Nacht von lauten Rufen aus den Sklavenhütten – die Männer vertrieben sich wieder einmal die Zeit mit Mungos und Schlangenkämpfen. Auch das gehörte zum Klang der Insel, wie das Wispern der Passatwinde und das Rascheln der Palmwedel. Brigitte musste an die Ureinwohner denken, die einst die Insel bevölkert hatten, Indianer mit Trommeln und sonst so nackt, wie Gott sie erschaffen hatte. Ihre Geister lebten fort in den Bäumen und Flüssen und den nebelverhangenen Berggipfeln. Jetzt gab es ein anderes Naturvolk hier, aus Afrika, wieder nackte Menschen mit Trommeln, die die Nächte mit ihren urtümlichen Rhythmen, ihrem Gesang und ihren fremdartigen Tänzen erfüllten. Die schwüle Luft gemahnte Brigitte, dass die Zeit der Hurrikane bevorstand. Sie ging ins Zimmer zurück, schloss die doppelte Balkontür und trat an ihren Frisiertisch, um den Stern von Kathay in eine verschließbare Schatulle zu legen. Im Lauf der Jahre war der blaue Kristall zu einem Symbol für das blaue Meer um sie herum, für den blauen Himmel über ihr geworden. Als sie jetzt in sein Herz aus kosmischem Staub blickte, sah sie Feuer und Leidenschaft. Ihre Leidenschaft. Die sich aus ihrem Käfig zu befreien suchte. Bevor Brigitte zu Bett ging, zog sie ihrem Mann die Stiefel aus. Henri lächelte im Schlaf. Er war kein schlechter Mensch, nur betrunken.
Sie schlüpfte zwischen die Laken und schloss die Augen.
Wenngleich sie sich ihrer geheimen Phantasien schämte, beschwor sie von neuem sein Bild herauf, das ihres Traumliebhabers. Und als sie in den Schlaf sank, träumte sie, dass er sie in seine Arme zog.
Henri Bellefontaine war die Unzufriedenheit seiner Frau nicht verborgen geblieben. Schließlich musste sie sich nicht mehr um die Kinder kümmern, während er, Henri, mit seiner Plantage vollauf zu tun hatte. Er baute hauptsächlich Zucker an und exportierte Rum, daneben führte er noch Zimt, Nelken und Muskat nach Europa aus, wo die Menschen eine Leidenschaft für derlei Dinge besaßen.
Zudem waren diese Gewürze für die Verwendung in der Küche, in der Medizin und in der Parfümherstellung sehr gefragt und fanden reißenden Absatz. Mithin war Henri Bellefontaine also nicht nur sehr vermögend, sondern auch sehr beschäftigt. Aber was machte Brigitte? Da er sich für einen liebevollen und aufmerksamen Ehemann hielt, dabei aber den Grund für ihre Rastlosigkeit missdeutete (Heimweh, sagte er sich, sie vermisst ihre Kinder), hatte er etwas besorgt, das er für ein perfektes Heilmittel hielt. Ein Teleskop.
Es war
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