Kristall der Träume
ein prachtvolles Messingfernrohr holländischer Machart mit Stativ, das auf einer besonderen Dachterrasse stand und mit einem 360-Grad-Sehwinkel eine komplette Rundumsicht der Insel und darüber hinaus bot. Henri gratulierte sich zu diesem genialen Einfall. Brigitte würde sich nun nicht mehr so einsam und isoliert vorkommen, denn durch die Linse würde für sie die Welt zum Greifen nahe sein: der Horizont und gleich dahinter Frankreich mit ihren Kindern; nahe gelegene Inseln (auf Hyazinthenblau schwimmende smaragdgrüne Flecken); Martiniques geschäftige Häfen mit ein- und auslaufenden Schiffen, Menschen bei der Ankunft oder Abfahrt; und schließlich die Hafenmauern mit ihren Zinnen, die engen Gassen und Durchgänge, die ineinander geschachtelten Häuser, die sich hügelan zogen.
Dieses Geschenk hatte Brigitte zutiefst gerührt. Henri war in der Tat ein liebenswerter Mann mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.
Man würde Bellefontaine nicht gerecht, wollte man behaupten, er habe sie an einen gottverlassenen Ort gebracht. Martinique war schließlich das kulturelle Zentrum der französischen Antillen, eine reiche, aristokratische Insel, die für ihren eleganten Lebensstil, die Üppigkeit ihrer Vegetation und abwechslungsreiche Landschaft gerühmt wurde. Zu Bellefontaines Besitz gehörte eine prächtige Plantage am Fuße des Mont Pelée, der in schöner Regelmäßigkeit Rauchwolken ausstieß und die Erde rumoren ließ, als wolle er die Menschen an ihre Vergänglichkeit erinnern. Das Haus war im typisch kreolischen Stil erbaut, die Gesellschaftsräume lagen im Parterre, die Schlafzimmer befanden sich im ersten Stock. Das Anwesen lag inmitten eines samtig-grünen Rasenteppichs, von hohen Palmen umstanden, deren Wedel im milden Passatwind raschelten. Brigitte liebte ihr tropisches Zuhause, und sie liebte Martinique. Niemand wusste mit Sicherheit zu sagen, woher die Insel ihren Namen hatte. Die einen meinten, er sei von einem indianischen Namen abgeleitet, der »Blumen« bedeutete, andere behaupteten, die Insel sei nach St. Martin benannt. Brigitte Bellefontaine mit ihrer romantischen Ader glaubte jedoch, dass Kolumbus, als er die Insel in ihrer ganzen Schönheit entdeckte, sie nach einer heimlichen Liebe benannt habe.
Brigitte hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihren privaten Ausguck täglich bei Sonnenuntergang aufzusuchen. Das war ihr die liebste Zeit des Tages, wenn die Arbeit ruhte und das abendliche Vergnügen begann. Das war auch die Zeit, wo sich der strahlend blaue Karibikhimmel in ein schwarzes, mit Sternen gesprenkeltes Firmament verwandelte. Nachdem sie dem Küchenpersonal Anweisungen für das Abendessen gegeben hatte, pflegte Brigitte ein ausgedehntes Bad zu nehmen, ihre Wäsche anzulegen, in ein hauchdünnes Négligée zu schlüpfen und auf ihre Dachterrasse zu steigen, um den spektakulären Sonnenuntergang zu genießen.
So tat sie es auch an diesem Tag. Mit einem kleinen Glas Rum neben sich, hielt Brigitte ihr Auge an das Fernrohr, schwenkte die Linse über das Meer, die Bucht, die Berge, die Wolken und die kleinen Fischerdörfer und dachte an den bevorstehenden Abend.
Heute würden sie keine Gäste haben, denn es war Sonntag. Sie würde mit Henri allein sein. Würde er bei ihr bleiben oder den Verlockungen der Insel in Form von Glücksspiel in Saint Pierre erliegen? Henri hatte sich am Morgen sehr reumütig gezeigt, als er beim Aufwachen feststellen musste, dass er sein Versprechen nicht gehalten hatte. »Ma chère! Ma puce! Ich bin Eurer nicht würdig!«
Nach einem flüchtigen Kuss auf die Wange war er in Reitkleidung davongeeilt, um seine Zuckerrohrfelder zu inspizieren.
Brigitte sah, wie die Lichter im Hafen angingen, wie Türen dem Sonnenuntergang aufgestoßen wurden, kleine Boote hungrige Besucher von ankernden Schiffen heranruderten. Sie vermeinte die Musik und das Gelächter zu hören, die köstlichen Essensdüfte zu riechen, das Lächeln der Menschen zu sehen. Sie schwenkte das Fernglas weiter über die üppige grüne Landschaft, über die Gipfel und Berge, die sich wie Wellenkämme aus dem tropischen Dschungel erhoben. Nun ging ihr Blick nach Osten, weg von dem karminroten Abendhimmel zu der ruhigen, dem Wind abgewandten Seite der Insel mit ihren sanft geschwungenen Stränden, aquamarinblauen Lagunen und versteckten Grotten… Überrascht hielt sie inne. Masten? Geraffte Segel? Sie richtete das Fernrohr genauer aus und stellte die Linse schärfer ein. Den zwei Masten und dem schmalen Bug
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