Kristall der Träume
sich zu sammeln. Sie wagte kaum zu atmen. Von draußen drangen Schreie, Rufe und Schüsse an ihr Ohr. Sie zwang sich, ruhig hinter der geschlossenen Eingangstür stehen zu bleiben, wartete wie eine Schauspielerin auf ihren großen Auftritt. Eine weitere lange Minute verstrich, dann zog Brigitte ganz langsam die Tür auf.
Mit ihren Musketen und Schießeisen, Enterbeilen, Dolchen und Pistolen boten die Piraten einen Furcht erregenden Anblick. Es waren so an die fünfzig Mann, mit strähnigen, fettigen Haaren, die Kleidung zerlumpt und zerrissen. Vor dem Hintergrund der lodernden Fackeln wirkten sie auf Brigitte wie Soldaten des Satans, eine Armee aus Kobolden und Dämonen.
Henri lag mit Stricken gefesselt auf den Knien. Brigitte musste an sich halten, um nicht an seine Seite zu eilen.
Die Veranda war ein einziges Dickicht aus Kletterpflanzen, mit Blüten in allen Regenbogenfarben, um die Säulen wand sich wilder Wein. Den Blüten entströmte ein betörender Duft, um den die letzten Bienen summten. Vor dieser Kulisse stand Brigitte wie auf einer Theaterbühne und sagte kein Wort, stand einfach da, bis die Männer nacheinander verstummten und sie ungläubig anstarrten. Den Fuß bereits auf der untersten Treppenstufe, schaute Captain Kent überrascht hoch. Im Licht der Laterne konnte Brigitte seine Züge klar erkennen: Sie waren hart und kantig. Kent trug einen mit Gold-und Silberfäden durchwirkten langen schwarzen Rock, der ihm fast bis an die Knöchel reichte. Die Knöpfe aus purem Gold. Seine Beine steckten in schwarzen Kniehosen und makellos weißen Seidenstrümpfen, an den Schuhen blitzten goldene Schnallen. Aus seinem Rock sah ein weißes, mit Spitzen besetztes Jabot hervor.
Unter dem breitkrempigen Dreispitz trug er keine Perücke, er hatte das lange Haar nach der neuesten Mode zu einem Zopf mit Schläfenlocken gebunden. Jeder Zoll ein Gentleman, dachte Brigitte, als wäre er zu einer Theatervorstellung gekommen und nicht, um ein Haus zu plündern.
Bei seinem Anblick wurde in Brigitte die Erinnerung an einen Tag in Versailles wach: Der große Geburtstag des Königs wurde mit Schaustellern, Jongleuren und Akrobaten gefeiert. Und es war im Zelt der Wahrsagerin, wo die alte Zigeunerin einer siebzehnjährigen Brigitte verkündete: »Dieser blaue Kristall besitzt ein unermessliches Feuer. Siehst du es? Es ist in seinem Inneren gefangen. Eines Tages wird dieses Feuer ausbrechen und dich verzehren. In Liebe. In Leidenschaft. In den Armen eines Mannes.
Eines Mannes, der dich so leidenschaftlich lieben wird, dass du glaubst, vor Ekstase zu vergehen.«
Die Hände fest verschränkt, um die Contenance zu wahren, schwebte Brigitte über die Veranda und lächelte huldvoll:
»Willkommen in meinem Haus, Monsieur.«
Kent starrte sie verblüfft an. Dann kräuselten sich seine Lippen zu einem Lächeln, und er begann, sie von Kopf bis Fuß zu mustern.
Brigitte wusste nur zu gut, dass er sie noch eine Stunde zuvor keines Blickes gewürdigt hätte. Aber nun war sie schön, dank der Magie des blauen Kristalls. Er hatte sie auf wundersame Weise verändert.
»Milady«, sagte Kent, zog den Hut mit schwungvoller Gebärde und verbeugte sich galant.
Ihre Stimme war kaum noch ein Flüstern: »Wir bieten Euch die Gastfreundschaft unseres Hauses an.«
Brigitte dankte dem Himmel im Stillen, dass ihr Vater seinen Töchtern in weiser Voraussicht die Feinheiten einer englischen Erziehung hatte angedeihen lassen, damit sie sich in den vornehmsten Kreisen zu bewegen wussten. Eine ihrer Schwestern hatte einen englischen Grafen geehelicht und war dann nach England gezogen. Im Lauf der letzten zwanzig Jahre hatte Brigitte einen regen Briefwechsel auf Englisch mit ihren Nichten und Neffen geführt, wofür sie dem Himmel jetzt ebenso dankte. Sie mochte zwar keine Expertin in dieser Sprache sein, wusste sich aber dennoch zu unterhalten. Kent zog eine Augenbraue hoch. »Gastfreundschaft?
Wir gedenken nicht zu bleiben, Madame. Wir sind auf der Suche nach dem Gold, und dann sind wir auch schon fort.«
Wenige Schritte weiter rief ihr Mann auf Knien: »Rette dich, Brigitte! «
Sie befeuchtete sich die Lippen. »Gastfreundschaft abzulehnen ist unhöflich, Monsieur. Und wie ich hörte, seid Ihr ein Gentleman.«
Er lächelte. »Ihr wisst also, wer ich bin?«
»Ihr seid Captain Christopher Kent.«
»Und Ihr habt keine Angst vor mir?«
»Das habe ich wohl«, erwiderte sie möglichst beherrscht, während ihr das Herz bis an den Hals klopfte. »In
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