Kristall der Träume
lechzte nach Feuer.
Da sie ohnehin nicht schlafen konnte, trat sie auf den Balkon vor ihrem Schlafzimmer, der auf den Garten führte. Von den Düften der tropischen Nacht überwältigt, schloss sie die Augen und stellte sich ihn vor – nicht Henri, sondern den glutäugigen Fremden. Er war hoch gewachsen, von nobler Erscheinung, tadellos gekleidet, ein exzellenter Duellant und feuriger Liebhaber. Er würde unerwartet auftauchen, wenn sie in ihrem Garten spazieren ging oder die exotischen Fische in der Lagune beobachtete, er würde an einem schwülen Tag daherkommen wie die Wolken, die Martinique urplötzlich mit einem sintflutartigen Regenguss überschütteten, dann weiterzogen und nur noch in der Erinnerung blieben. So wie er! Die Liebe mit ihm glich einem tropischen Sturm – sie war heftig, hitzig, mitreißend. Allein bei dem Gedanken daran begann Brigitte zu beben. Nur, dass es diesen Mann in Wirklichkeit nicht gab. Bei der Vorstellung, ein Leben ohne Romantik und Leidenschaft führen zu müssen, fühlte sich Brigitte, als legte sich eine eiserne Klammer um ihre Brust. Aber was sollte sie tun? Undenkbar, mit einem der hiesigen Pflanzer eine Affäre zu beginnen. Schließlich musste sie ihren guten Ruf wahren. Da es also niemanden gab, der infrage kam, hatte sie Zuflucht zu einem Traumliebhaber genommen, einem verwegenen Kavalier, dessen Name je nach Stimmung und Geschichte variierte: Gewöhnlich war er ein Franzose und hieß Pierre oder Jacques, der die Insel nur für einen Tag aufsuchte, sich mit ihr in einer Grotte traf, wo sie sich den ganzen Nachmittag leidenschaftlich liebten. Bevor er davonsegelte, versprach er wieder zu kommen, und dieses Versprechen war Balsam für ihre Seele.
Diese Phantasien brachten nicht nur die Liebe, sondern auch die Jugend in Brigittes Leben zurück. In ihren Träumen war sie wieder jung und schlank und schön und verdrehte den Männern wie in früheren Tagen die Köpfe. Dennoch wurde sie von Schuldgefühlen geplagt. Als gute Katholikin glaubte Brigitte, dass sündhafte Gedanken bereits als fleischliche Sünde galten. Sich außerhalb der ehelichen Bande lustvollen Phantasien hinzugeben war eine Sünde, die Vorstellung, mit einem Fremden ins Bett zu gehen, kam einem Ehebruch gleich. Aber wenn der Liebhaber gar nicht existierte, war das auch Ehebruch?
Brigittes Blick schweifte über das Meer zum fernen Horizont, der sich nur durch das Fehlen der Sterne ahnen ließ. Ein funkelnder Nachthimmel über ihr, ein dunkler, gefährlicher Ozean unter ihr.
Und jenseits davon… Paris. Viertausend Meilen entfernt lebten ihre Freunde, ihre Familie und Kinder in einer Welt, die sich so sehr von der ihren unterschied, dass sie genauso gut auf dem Mond hätten leben können.
Brigitte wäre liebend gern mit ihren Kindern nach Paris gereist.
Dabei sehnte sie sich weniger nach dem kühlen Klima und dem Menschengedränge in den Straßen als nach dem aufregenden gesellschaftlichen Leben der Stadt. Von adliger Herkunft, hatte sie sich in der Gesellschaft von Königen, Königinnen und der französischen Aristokratie bewegt. Sie vermisste die Schauspiele von Molière und Racine, die Spektakel an der Comédie Française und die goldenen Zeiten, als der Sonnenkönig die Künste mit Geld überschüttete. Was zeigte man heutzutage am Theater? Wer war erklärter Favorit? Was trugen die Damen jetzt bei Hofe? Die Pflanzer auf Martinique bezogen alle ihre Nachrichten aus Briefen aus der Heimat, die manchmal spät, bisweilen auch gar nicht eintrafen, je nach Laune der Meere, des Wetters und der Piraten. So hatten sie zum Beispiel vor drei Jahren Kenntnis davon bekommen, dass ihr großer König, Ludwig der Vierzehnte, tot war – und das schon seit zwei Jahren! Auf dem französischen Thron saß jetzt sein Urenkel Ludwig der Fünfzehnte, ein zehnjähriger Knabe.
Eine nächtliche Brise bewegte die Palmwedel und die riesigen Blätter der Bananenstauden und bauschte Brigittes Négligée. Als die Brise wie der Atem eines Geliebten über Brigittes nackte Haut strich, erschauerte sie. Im Grunde hatte sie Angst. Sie fühlte sich schwach und verwundbar. Die Kinder nach Europa zu schicken, damit sie die richtigen Umgangsformen lernten, war nichts Ungewöhnliches, alle Pflanzer taten das. Demgemäß hatte Brigitte ihre Kinderschar der Obhut ihrer Schwester in Paris anvertraut, damit sie ihnen die richtige Erziehung angedeihen ließ. Inzwischen bereute sie ihren Entschluss beinahe, so sehr vermisste sie ihre Kinder. Sie
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