Kristall der Träume
sie machte: Warum lächelte Miss Fitzsimmons immerzu? Woher nahm sie die Energie? Hat ihr eigentlich niemand gesagt, dass es sich für ein Mädchen nicht schickte, so viel zu reden?
Am neunundzwanzigsten Mai, nach zweieinhalb Wochen auf dem Trail, erreichten die Auswanderer den Big Blue, einen Zufluss des Kansas River. Aufgrund heftiger Regenfälle war der Fluss jedoch so angeschwollen, dass man ihn nicht durchwaten konnte.
Notgedrungen mussten die Auswanderer ihr Lager aufschlagen, aber sie nutzten die Gelegenheit für den ersten gründlichen Waschtag seit ihrer Abreise aus Independence. Körper und Kleidung wurden gleichermaßen dick mit Talkseife eingerieben, Kinder, schmutzstarrende Hemden, Röcke, Decken, Mäntel und die
»Unaussprechlichen« energisch geschrubbt. Unter einer schmalen Mondsichel widmete man den Abend der Musik, dem Tanzvergnügen, Geschichten und unschuldigen Flirtversuchen am Lagerfeuer. Silas Winslow, ein begehrter Junggeselle mit lukrativem Gewerbe, stand im Mittelpunkt des Interesses von Müttern unverheirateter Töchter, ebenso wie Matthew Lively, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass er Arzt sei.
Während Winslow die Aufmerksamkeiten genoss, jede Menge Kuchen verschlang und den Damen bereitwillig seine Sachen zum Waschen und Stopfen überließ, fühlte sich Matthew Lively dabei höchst unbehaglich. Von Natur aus schüchtern und in gesellschaftlichen Dingen unbeholfen, wusste er sich angesichts der Aufmerksamkeit der Damen nicht zu helfen. Zu alledem nagte das Bild der zarten Honoria unverändert an seinem Herzen, und er litt immer noch daran, dass sie so brüsk seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Folglich verunsicherten ihn die jungen Töchter der Farmer und Siedler mit ihrer offenkundigen Jagd auf einen Ehemann. Die einzige Ausnahme bildete die bemerkenswerte Miss Emmeline Fitzsimmons, die behauptete, sie glaube nicht an die Ehe. Matthew hatte sie selber zu Mrs. Ida Threadgood sagen hören, die Ehe sei eine künstlich geschaffene Institution, von den Männern erdacht, um die Frauen zu unterjochen. Auch wenn sie ihn also nicht so beunruhigte wie die Auswanderertöchter mit ihren selbst gebackenen Kuchen und ihrem koketten Lächeln, beunruhigte sie ihn dennoch. Endlich war der Fluss wieder passierbar, aber nun mussten die Planwagen ans andere Ufer geschafft werden. Riesige Pappeln wurden gefällt, und aus den Stämmen wurden Flöße gebaut, die groß genug waren, einen
»Prärieschoner« zu tragen. Ein mühsames Unterfangen, denn die Wasserströmung war tückisch, und es bedurfte schier übermenschlicher Anstrengungen, die Rinder und Pferde durch den Fluss zu treiben. Die Auswanderer schufteten zwei Tage lang, bis die ganze Kolonne übergesetzt hatte, wobei es immer wieder zu Streitigkeiten kam und zwei Fuhrleute mit dem Messer aufeinander losgingen.
Am anderen Flussufer versuchte die durchnässte, verschmutzte und erschöpfte Gesellschaft, die Ochsen wieder ins Joch zu spannen, die Rinder und Pferde einzusammeln und ein Feuer in Gang zu bringen, als Barnabas Threadgood plötzlich einen Schrei ausstieß und zu Boden stürzte.
Alles sammelte sich um den bewusstlosen Mann, während Emmeline zu Matthew Lively rannte. Ida stand über ihren Mann gebeugt, die Hände in die Hüften gestemmt und erklärte: »So was hat er noch nie gemacht.«
Matthew drängte sich durch die Menge, kniete sich neben Barnabas und griff nach seinem Puls. Die Umstehenden verfolgten in ergriffenem Schweigen, wie Matthew seine schwarze Tasche öffnete und das Stethoskop herausholte. So etwas hatte noch keiner von ihnen gesehen. Mit aufgerissenen Augen sahen sie zu, wie Matthew das Ende des Hörrohrs auf die Brust des unglückseligen Mannes setzte und hineinhorchte. Nach einer kurzen Weile blickte er auf und sagte bedauernd: »Ihr Mann ist tot, Ma’am.«
»Ist das wahr?«, erwiderte Ida.
Sie ließ ihren Blick eine Minute lang auf dem Gesicht ihres Mannes ruhen, dann schaute sie nach Westen, schien etwas abzuwägen, blickte wieder nach Osten, überlegte noch ein wenig.
»Wenn wir ihn begraben haben, gehe ich nach Missouri zurück«, erklärte sie schließlich.
Zu Emmelines Entsetzen schlossen sich vier weitere Frauen mitsamt ihren Kindern und sechs Fuhrleuten an. Falls die Ehemänner protestierten, taten sie das leise. Somit stand Emmeline ohne Mitfahrmöglichkeit in der Mitte von Nirgendwo, einhundertsechzig Meilen von Independence entfernt. Arnos Tice beschied ihr, sie würde sich Ida anschließen
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