Kristall der Träume
Doodle und den Sternenbannermarsch, Feuerwerke wurden entzündet, und Mr. Silas Winslow machte Gruppenbilder von denen, die es sich leisten konnten. Familienmitglieder und Freunde winkten zum Abschied und wischten sich heimlich die Tränen fort, als sie ihre Angehörigen in das große unbekannte Wagnis entließen.
Und dann, Schritt für Schritt, machte sich der Tross auf den Weg.
Es sollte eine Reise über zweitausend Meilen bei einer Geschwindigkeit von zwei Meilen pro Stunde werden. Aufgrund ihrer Leinwandbedachung, die über Holzrahmen gezogen war, sahen die von Ochsengespannen gezogenen Wagen aus der Ferne wie Prärieschiffe unter vollen Segeln aus, weshalb man sie scherzhaft
»Prärieschoner« nannte. Die Kolonne bestand aus zweiundsiebzig Wagen, einhundertsechsunddreißig Männern, fünfundsechzig Frauen, einhundertfünfundzwanzig Kindern und siebenhundert Rindern und Pferden. Jeder Planwagen war mit persönlicher Habe und Möbelstücken beladen, dazu kam der in Independence eingekaufte Proviant, das bedeutete pro Kopf: zweihundert Pfund Mehl, einhundert Pfund Speck, zehn Pfund Kaffee, zwanzig Pfund Zucker, zehn Pfund Salz. Hinzu kamen noch Reis, Tee, Bohnen, Trockenfrüchte, Essig, Eingelegtes und Senf. Zusätzlich führten die Auswanderer noch Tauschgüter mit sich: Baumwollballen für die Indianer, die sie unterwegs treffen würden; Spitze und Seide für die Spanier; Bücher und Werkzeug für die Yankees, die bereits im Westen siedelten. Die Frauen brachten außerdem noch Tafelwäsche, Porzellan und die Familienbibel mit, die Männer Waffen, Pflüge und Spaten. Jede Familie wurde von einer Schar Hunde, Hühner und Gänse begleitet.
Der Trail schlängelte sich von Independence nach Westen durch Shawnee-Land, am Kansas River entlang, wo die Wagen mit Hilfe der ansässigen Indianer über den Fluss geschifft wurden (geschäftstüchtige Stammesangehörige betrieben Fähren über den Fluss und verlangten pro Wagen fünfundsiebzig Cent, was die Auswanderer schlichtweg als Straßenraub empfanden). Während die Männer die Pferde ritten, gingen die meisten Frauen zu Fuß neben den Gespannen her ebenso wie die Fuhrleute, die die Ochsen antrieben, und nur die Alten und die Kinder reisten in den Wagen.
Am Ende des ersten Tages machte der gewaltige Treck Rast für die Nacht. Man bereitete das Abendessen, fütterte die Tiere, legte sich schlafen, um dann am nächsten Morgen erneut aufzubrechen. In dieser Form sollten die nächsten vier Monate ablaufen, das Ganze erinnerte an ein Dorf auf Reisen. Unterwegs trafen sie andere, die auf dem Weg nach Kalifornien waren, das nun den Vereinigten Staaten angehörte und nicht mehr im Krieg mit Mexiko lag. Die an Oregon interessierten Auswanderer sahen keinen Sinn darin, nach Kalifornien zu ziehen, das ihnen als »nutzlose Wildnis mit nichts als Mexikanern und Indianern« geschildert worden war. Einer, der eilig auf einem Pferd vorbeiritt, murmelte etwas von Goldfunden, aber alle lachten ihn aus und nannten ihn einen Einfaltspinsel.
Die Prärie erstreckte sich flach und grasig vor ihnen, matschig an Stellen, wo es geregnet hatte. Auf ihrem Marsch hielten die Auswanderer den Blick stur auf den Horizont gerichtet, eine Familie folgte stoisch der voranziehenden, gefolgt wiederum von der nächsten: Tim O’Ross und Rebecca mit ihrer aus verschiedenen Ehen zusammengewürfelten Kinderschar; der Hühnerfarmer Charlie Benbow und seine Frau Florine; Sean Flaherty, der singende Ire, und seine gutmütige schwarze Hündin Daisy; die vier Schumann-Brüder aus Deutschland, die einen Wagen voll schmiedeeiserner Pflüge und anderes landwirtschaftliches Gerät mit sich führten (die Schumanns sprachen kaum Englisch und dachten eine ganze Zeit lang, das Wort für »Maultier« sei »gottverdammt«). Nachdem sie als Fremde die Reise angetreten hatten, wurden die Auswanderer unterwegs schnell miteinander bekannnt. Captain Amos Tice kümmerte sich nicht um die persönlichen Belange der Leute, er achtete lediglich darauf, dass der Reisepreis bezahlt wurde, und packte dann und wann mit an oder half bei der Verteidigung gegen Indianer. Insofern blieb es den Reisenden selbst überlassen, sich näher kennen zu lernen. Nach und nach erfuhren sie, wer aus Ohio oder Illinois oder New York stammte, wer welchen Beruf ausübte, wer verwitwet oder zum wievielten Male wieder verheiratet war. So fragte zum Beispiel eines Nachmittags ein Fuhrmann aus Kentucky bei Matthew Lively an, ob er einen Zahn ziehen könne,
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