Kristall der Träume
vordringen konnte – er hatte das Ende der Welt erreicht –, wurde es womöglich Zeit zurückzugehen.
Nur… wohin? Zurück zur Ewigen Quelle, wo ihn Schimpf und Schande erwartete? Es gab nur einen Grund für ihn heimzukehren: Marit.
»Bleib bei uns«, sagte Bodolf und legte ihm den Arm um die Schultern. »Wir werden uns gegenseitig unsere Geschichten erzählen, wir werden zusammen trinken und die Herzen unserer Ahnen erfreuen.«
Sie machten ihn mit Met bekannt, einem Honigwein, den sie den ganzen Sommer über in gewaltigen Mengen konsumierten. Als Avram den Met kostete und bemerkte, wie hübsch Fridas Haar im Schein des Feuers schimmerte, sah er keine Veranlassung, bald aufzubrechen.
Mit der Zeit wollte er mehr über seine neue Umgebung erfahren.
»Wie kommt es, dass euer Volk an so einem Ort lebt?«, fragte er und dachte dabei an seine von der Sonne verwöhnte Heimat, die ihm viel wohnlicher erschien.
»Unsere Ahnen lebten ursprünglich im Süden. Als die Rentiere
›Zieht-nordwärts-Stimmen‹ vernahmen, zogen sie los, und meine Ahnen folgten ihnen.« Bodolf deutete auf die Berge, die wie scharfe Messer emporragten, und die großen Eisströme dazwischen. »Die Stimmen kamen von den Gletschern dort. Sie waren auf dem Rückzug nach Norden und hinterließen Flechten und Moos, die unsere Rentiere lieben. Man könnte also sagen, dass uns die Gletscher hergebracht haben.«
»Wieso ziehen sie sich zurück?«
Bodolf zuckte die Achseln. »Vielleicht ruft der Himmel sie zurück.«
»Werden sie wiederkommen?«, fragte Avram und versuchte, sich eine Welt vollkommen von Eis bedeckt vorzustellen. »Das hängt von den Göttern ab. Vielleicht. Eines Tages.« Avram deutete auf das Gehege mit den seltsamen Wölfen, die gerade von ein paar Männern gefüttert wurden. Zu seiner Verwunderung wurden die Männer nicht angegriffen. »Wie ist das möglich?«
»Habt ihr keine Hunde dort, wo du herkommst?«
»Aber das sind doch Wölfe!«
»Verwandte von Wölfen.«
»Ihr habt sie gezähmt?«
»Sie haben uns gezähmt«, erwiderte Bodolf verschmitzt. »Sie sind vor langer Zeit an unsere Ahnen herangetreten und haben gesagt:
›Wenn ihr uns füttert, werden wir für euch arbeiten und euch in den langen Nächten Gesellschaft leisten.‹«
Mit der Zeit erfuhr Avram, dass Bodolfs Volk das Rentier als Nahrungsquelle und als Schöpfer des Lebens verehrte. Die prächtigen Tiere wurden in großen Gehegen gehalten, die ihnen genug Freiraum boten. Es waren schöne Tiere, mit dichtem dunklen Fell, weißer Decke und mehrfach verzweigtem Geweih. Dass solche Tiere von Menschen gehalten werden konnten, verwunderte Avram, und noch mehr, dass sie sich melken ließen. Er musste an Namir und seine Experimente mit den Ziegen denken und empfand einen ganz neuen Respekt vor dem Mann. Bodolf erzählte ihm von den Rentierjagden seiner Vorfahren und wie einmal einer seiner Ahnen sich bei einer solchen Jagd verirrt hatte und halb erfroren im Schnee lag. Eine Rentierkuh war aus dem Nichts aufgetaucht, hatte sich neben ihn gekauert, ihn mit ihrem massiven Körper gewärmt und ihm dann erlaubt, ihre Milch zu trinken. Und während langsam wieder Leben in den Mann kam, hatte sie ihm erklärt: »Jagt uns nicht weiter. Lasst einige von uns bei euch leben, wir werden euch füttern und warm halten. Aber lasst meine Herden frei umherziehen.«
Daraufhin fingen sie ein paar Rentierkühe ein und nahmen sie mit.
Eine Zeit lang reichte die Milch, dann erschien die Kuh dem Vorfahren im Traum und sagte: »Ihr könnt die Weibchen nicht von den Männchen trennen, denn wie die Menschen wollen auch die Rentiere ihr Vergnügen.« Also gesellten die Vorfahren einen Hirsch zu den Kühen, und fortan gab es immer Milch.
Avram runzelte die Stirn. »Wie vergnügen sich denn Tiere?«, wollte er wissen und hatte Mühe, sich das vorzustellen. Bodolf lachte und machte mit den Händen eine eindeutige Geste. »Wie wir Menschen auch! Tiere sind nicht anders!« Avram hatte Tiere immer nur auf der Jagd erlebt, wenn er sie mit Speeren oder Pfeil und Bogen jagte, aber noch nie bei derlei Betätigung. Es leuchtete ihm ein. Die Göttin hatte den Akt des Vergnügens für die Menschen geschaffen, warum nicht auch für die Tiere? »Wenn der Frühling kommt«, meinte Bodolf zuversichtlich, »werden Kälbchen geboren.«
Avram zog die Augenbrauen hoch. »Wie kannst du das wissen?
Der Mond entscheidet, wann neues Leben geboren wird. Menschen können das nicht vorhersehen.«
Bodolf wurde
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