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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Sonnenscheins, das so unendlich weit von dieser Eiswüste entfernt lag, schien in Wirklichkeit nicht mehr zu existieren.
    Aber dann, in seinem fünften Sommer beim Volk des Rentiers, setzten die Träume ein. Träume von Yubal und Marit, von der Priesterin Reina, seinen Brüdern, ja sogar Hadadezer. Es waren warme, verführerische Träume, die ihm in grünen und goldenen Farben den Frühling im Jordantal vorgaukelten. Im Schlaf griff Avram nach rotem Klatschmohn, rosaroten Päonien, nach süßen Datteln und saftigen Granatäpfeln. Die Nachtgesichte waren so real, dass er sich beim Aufwachen darüber wunderte, wie seine Seele in kürzester Zeit über so große Entfernungen reisen konnte. Als die Träume immer häufiger und heftiger wurden und Avram wie ein Häufchen Elend herumschlich, schickte die besorgte Frida nach der Steindeuterin.
    Die Steindeuterin war klein und sehr alt, ihr Körper verschrumpelt wie eine alte Nuss in einer Schale aus Rentier- und Robbenfellen. Doch ihre Augen waren blank wie der Polarstern und funkelten mit einer Intensität, dass Avram glaubte, sie wüsste alle Antworten.
    Im Kreis sitzend verfolgten sie gespannt, wie das Orakel in einen Lederbeutel blies und dann Steine auf ein Rechteck aus weichem Robbenfell warf. Mit ihrem verknöcherten Finger auf jeden einzelnen deutend, krächzte die Alte: »Dieser Stein trägt deine Hoffnungen und Ängste. Dieser Stein sagt, was unabänderlich ist.
    Dieser Stein verrät deine gegenwärtige Situation.« Sie blickte Avram an. »Du willst bleiben. Du willst gehen. Das ist es, was dich quält.«
    »Können die Steine mir sagen, was ich tun soll?« Die Alte atmete tief. »An deiner Seite ist ein Tiergeist. Einer, den ich nicht kenne.
    Ein kleines Tier mit großen Hörnern, die sich wie Rauch kringeln.
    Sein Fell hat die Farbe von Met mit schwarzen Streifen am Bauch.«
    Sie sah Avram direkt an. »Ist das dein Clangeist?«
    »Die Gazelle«, sagte Avram verwundert. Wie konnte sie das Tier so genau beschreiben, wenn sie es noch nie gesehen hatte? »Was verlangt sie von mir?«
    Die Alte schüttelte den Kopf. »Nicht sie verlangt etwas.« Ihr helles Augenpaar war fest auf Avram gerichtet. »Da ist noch ein Stein«, sagte sie schließlich. »Nicht von diesen. Der da.« Sie deutete auf den Talismanbeutel an seiner Brust. »Blau wie der Himmel, durchsichtig wie das Wasser. Der Stein trägt die Antwort in sich.«
    Avram holte den Talismanbeutel hervor und öffnete ihn behutsam.
    Er zog den Kristall heraus, hielt ihn zwischen zwei Fingern hoch.
    Diesen Stein hatte Al-Iari seinem Volk vor Anbeginn der Zeit geschenkt. Als er den kosmischen Staub im Inneren des Steins genauer betrachtete und darin die sprudelnde Quelle, das Herzstück seiner Heimat erkannte, überfiel es ihn blitzartig: Der Stein ist das Herz der Göttin und gehört in den Schrein an der Stätte der Ewigen Quelle.
    Auch er gehörte dort hin, gehörte zu seinem Volk. Das verstand er jetzt. In all der Zeit beim Volk des Rentiers war, von ihm unbemerkt, eine Veränderung in ihm vorgegangen; sein Kummer hatte sich gelegt und Raum für eine neue Empfindung geschaffen: Heimweh. Zum Abschied schenkte er Bodolf seinen Wolfszahn als Schutz gegen ihren Feind, den Wolf. Als Gegengeschenk bekam er einen aus Bernstein geschnitzten Eisbären. Er küsste Frida, die im neunten Monat schwanger war, und wünschte ihr alles Gute. Dann schulterte er sein Bündel, packte Speer und Bogen und machte sich, mit »Hund« an der Seite, nach Süden auf über die Eisbrücke, die ihn über das Meer auf die alte Route zurückbringen würde, die er vor fünf Jahren gekommen war.
    Ein Jahr nach seinem Abschied vom Volk des Rentiers und neun Jahre nach seiner Flucht aus der Stätte der Ewigen Quelle gelangte er zu dem Bergdorf, in dem Hadadezer zu Hause war. Der Hund hatte sich auf dem langen Weg als guter Gefährte in vielen gefährlichen Situationen erwiesen, und Avram hatte eine Menge dazugelernt.
    Hatte er Tiere bislang nur als Nahrungsquelle angesehen, vermittelte ihm dieser Pakt mit dem Hund jetzt eine stille Freude, wie er sie noch nie erlebt hatte.
    Als die beiden jedoch an der Bergfestung eintrafen, verursachten sie einige Aufregung, weil die Wächter den »Wolf« töten wollten.
    Erst als Avram den Namen Hadadezer ins Spiel brachte, ließen sie von ihrem Vorhaben ab und führten ihn durch ein Labyrinth von hohen Steinmauern und Tunnel, derweil die Leute sie anstarrten und sich über das wilde Tier in ihrer Mitte entsetzten. Die

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