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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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verband und zwei Kontinente trennte. Avram ahnte nichts von der Gletscherschmelze in Europa, die den Meeresspiegel ansteigen lassen und über Jahrtausende diese enge Wasserstraße in einen breiten Strom verwandeln würde, der eines Tages Bosporus heißen sollte.
    Aber hier sah er zum ersten Mal Boote und fand einen Mann, der ihn übersetzte. Avram war gerade achtzehn Jahre alt geworden und glaubte, sein Leben sei vorbei.
    Er reiste allein.
    Wenn er auf Spuren von Menschen stieß, machte er einen großen Bogen darum. Auf seiner rastlosen Wanderung nach Westen war aus Avram, dem Träumer, Avram der Jäger, der Fallensteller, der Fischer geworden. Er fing Kaninchen und Lachse, grub nach Muscheln im Sand und schlief nachts einsam am Feuer. Der Federumhang schützte ihn vor Wind und Regen und diente an heißen Sommertagen als Sonnenschutz. Sein knochiger Knabenkörper setzte Muskeln an, sein Bart begann kräftig zu sprießen. Er zog unbeirrt nach Westen, ohne zu ahnen, dass acht Jahrtausende später einmal Männer wie Alexander der Große oder Paulus genau seiner Route folgen würden.
    An einem Gestade, das eines Tages Italien heißen sollte, gelangte er zu einer Ansiedlung, deren Menschen sich von Muscheln ernährten und eigens ein Werkzeug aus Flintstein zum Aufbrechen der Schalen entwickelt hatten. Von der langen Reise erschöpft, blieb Avram eine Jahreszeit bei ihnen, ohne jedoch seinen Namen zu nennen oder ihre Sprache zu erlernen. Inzwischen betrachtete er das Leben als flüchtige Begebenheit, die keinen Raum für Namen und persönliche Schicksale ließ. Wenn ihn das Heimweh überkam, verhärtete er sein jugendliches Herz und gemahnte sich an seine schreckliche Tat, an die Schande, die er über seine Familie gebracht hatte, und daran, dass er verflucht und auf ewig ein Ausgestoßener sein würde.
    Obwohl der Horizont weiterhin lockte, wie in seinen jungen Jahren, folgte er ihm nur, weil er nicht wusste, wohin sonst er gehen sollte. In seiner Rastlosigkeit fand er nirgends einen Ort, der seiner Heimat ähnlich gewesen wäre. Früher hatte er einmal geglaubt, dass alle Menschen in Lehmziegelhäusern mit kleinen Gärtchen lebten, um sich nun eingestehen zu müssen, dass die Stätte der Ewigen Quelle einmalig war.
    Und noch etwas war ihm klar geworden: Yubals Wolfszahn schützte ihn tatsächlich vor allem Unheil. Auf seiner gesamten Reise zur Quelle des Jordan und darüber hinaus, über die anatolische Ebene bis zu der gefährlichen Flussüberquerung in einem flachen Kahn, war ihm kein Unglück widerfahren. Die Muschelesser hatten ihn freundlich aufgenommen, andere nur argwöhnisch beäugt, selbst wilde Tiere hatten ihn in Ruhe gelassen. Und dies alles kraft des ihm innewohnenden Wolfsgeistes. Getrübt wurde diese Erkenntnis jedoch von dem Gedanken, dass Avrams Fluch Yubal wahrscheinlich nicht getötet hätte, wenn dieser den Talisman behalten hätte. Avram zog weiter Richtung Norden. Er folgte mächtigen Strömen, überquerte gewaltige Gebirgszüge und kam durch dichte Birken-, Fichten- und Mischwälder, in denen überwiegend Rotwild und Wildrinder lebten. Hier stieß er auf ein Volk von Hochwildjägern. Er tauschte seinen Federumhang, der nicht mehr besonders schön, aber immer noch eine Besonderheit war, gegen Pelze, Stiefel und einen kräftigen Speer ein. Gelegentlich schloss er sich anderen Jägern an, blieb eine Weile und zog weiter, ohne je seinen Namen oder seine Geschichte zu verraten. Aber er war ein guter Jäger, der immer teilte, der die Gesetze und Tabus der anderen achtete und sich nie unaufgefordert zu einer Frau legte.
    In dieser ganzen Zeit trug er den blauen Kristall bei sich, versteckt an der Brust, als Symbol seines Verbrechens und seiner Schande. Seit seiner Flucht aus der Heimat hatte er den Stein nicht mehr hervorgeholt, und dennoch spürte er täglich seine Gegenwart: hart, kalt und unpersönlich. Wenn er des Nachts von Träumen heimgesucht wurde – Marit, die ihn im Tal der Raben suchte, Yubal, der ihm vom Wachturm zurief –, verriet er seinen Begleitern nichts von seinen Qualen.
    Der Tag kam, da ihn die Unruhe wieder überkam. Nach Norden deutend, fragte er die Jäger, was in dieser Richtung lag, und sie sagten: »Geister.«
    So kam es, dass Avram Abschied von den Jägern nahm und nordwärts zum Land der Geister zog.
    In Pelze gehüllt, die Speere und Pfeile auf dem Rücken verzurrt, wanderte Avram auf Schneeschuhen weiter, die ihm die Jäger mitgegeben hatten, bis er schließlich am Rande

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