Kristall der Träume
ungeduldig. »Habt ihr keine Tiere in eurem Land?«
»Doch, viele.«
»Und gebären sie Junge?«
»Wenn wir im Frühling jagen gehen, sehen wir Junge bei den Herden.«
»Also kann man es vorhersehen! Weil so nämlich…«, und dabei machte Bodolf wieder die derbe Geste mit den Händen, »der Rentiergeist dem Weibchen Nachwuchs bringt. Das Gleiche passiert mit den Menschen. Wenn eine Frau von einem Rentier träumt, den Rauch von Rentierfleisch auf dem Feuer einatmet oder ein Rentieramulett um den Hals trägt, wird sie schwanger. Das Rentier ist der Lebensspender für alle. Ist das bei euch nicht so?«
»In meinem Land ist es der Mond, der die Frau mit einem Kind segnet«, antwortete Avram, der nicht so recht an das sexuelle Vergnügen von Tieren glaubte.
Viel faszinierender als das Rätsel der Rentiere fand Avram die Menschen selber. Er stellte fest, dass es hier mehr feste Paarbindungen gab als bei seinem eigenen Volk und dass es keine Bündnisse zwischen den Familien, wohl aber zwischen zwei Menschen gab: Die Frau kümmerte sich um Heim und Herd, während der Mann für Nahrung und Schutz sorgte. Vielleicht lag es an den bitterkalten, langen Wintern und dem harten Leben hier, dass die Zusammenarbeit für das Überleben erforderlich war. Anders als in seiner Heimat, wo die Nächte heiß und schwül waren und die Menschen sich unter freiem Himmel paarten.
Als sich der Winter ankündigte, verließ das Volk der Rentiere das Waldland und zog in die Eiswüste hinaus, um dort seine Iglus zu bauen. Bodolf prüfte die Festigkeit des Schnees mit seinem Messer, ehe er anfing, große Blöcke herauszuschneiden, die dann spiralförmig zu einer Kuppel aufeinander geschichtet wurden. Im Inneren des Iglus wurde der Boden freigeschaufelt, dann wurden Schlafbänke aus dem Schnee geschnitten.
Bodolf befand, dass Avram sich eine Wintergefährtin nehmen sollte. Avram dachte sofort an Frida, die, wie er erfuhr, noch keinen Gefährten gewählt hatte. Aber um die Gunst einer Frau zu erlangen, musste er sich zuerst als guter Nahrungsbeschaffer erweisen, und so nahmen Bodolf und sein Schwager Eskil Avram mit auf Robbenjagd.
Wie Bodolf erklärte, lauerten sie den Robben an ihren Atemlöchern im Eis auf, an denen die Tiere regelmäßig zum Luftholen auftauchten, und erlegten sie mit der Harpune. Es erforderte viel Geduld und stundenlanges Warten, aber das war Avram von seinem Dienst auf dem Wachturm in seiner Heimat gewöhnt.
Nach mehreren missglückten Versuchen hatten die Männer ein Einsehen und halfen Avram, eine Robbe zu erlegen, die er, nach altem Brauch, der Frau seiner Wahl präsentieren sollte. Er trug die Robbe zu Frida, die dem Tier einen Schluck Wasser anbot, um den Robbengeist günstig zu stimmen, und Avram in ihre Hütte einlud.
So erlebte Avram seinen zweiten Winter beim Volk des Rentiers, verbrachte die Tage bei der Robbenjagd und die Nächte in Fridas Armen, obwohl Tag und Nacht praktisch gleich finster waren. Frida zeigte ihm tanzende Lichterscheinungen am Nordhimmel, er wiederum erzählte ihr von der Wüste und dem Salzmeer ohne Leben darin. In Fridas Armen vergaß Avram eine Weile die Schande, die ihn hierher getrieben hatte, und sein Verbrechen. Wenn er sein Gesicht in ihrem flachsblonden Haar vergrub und ihr beteuerte, sie sei die Liebe seines Lebens, lachte sie nur und neckte ihn, weil sie ihn oft genug im Schlaf nach Marit hatte rufen hören und wusste, dass eine dunkelhaarige Frau in seinen Träumen ihre Rivalin war.
Wie von selbst passte Avram sich einem neuen Zeitrhythmus an, der von Licht und Dunkelheit diktiert wurde. Am hellsten waren die Tage von Frühling bis Spätsommer, am dunkelsten zwischen Herbst und Frühling. Drei Monate lang sank die Sonne nie hinter den Horizont, und drei Monate lang kam sie gar nicht erst zum Vorschein. Die Jahreszeiten ließen massive Eisschichten auf dem Wasser wachsen oder tauen. Avram erfuhr viel über Bodolfs Götter und den Aberglauben seines Volkes, aber er respektierte ihn.
Allmählich schmeckte ihm sogar Robbenfleisch, und im Sommer folgte er Frida zu schneebedeckten Gipfeln, von wo aus sie die gesamte Welt überblicken konnten. Aus einem frischen Wurf der Schlittenhunde wuchs ihm ein Welpe besonders ans Herz. Er nahm ihn bei sich auf, nannte ihn »Hund« und hatte von da einen treuen Begleiter. Die Stätte der Ewigen Quelle erschien ihm immer mehr wie ein Traum, und Marit und die anderen wie Personen, die er selbst erfunden hatte. Das Land der Wärme und des
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