Krock & Co.
war unrasiert, die Haare, schon lange nicht geschnitten, bedeckten den oberen Teil der Ohrmuscheln und den Nacken. Er schien es selber zu merken, denn er wurde rot. – Nicht einmal einen Franken habe man übrig, um sich beim Coiffeur die Haare schneiden zu lassen, murrte er. Und keine Hoffnung, daß es jemals besser komme. Ob der Herr Pfarrer glaube, daß eine Familie – Frau, Mann und drei Kinder – von vier Jucharten Land leben könnten? Und dazu noch Zinsen? Dem Rechsteiner? Wenn er den Mann einmal erwischen könne! sagte der Mann und ballte die Faust. – Wie ein Wohltäter habe er sich das erstemal gegeben: »Lueg, Hans, ich bin ein kranker Mann, was soll ich mit meinem Geld? Ich weiß, daß du's brauchst. Wieviel darf ich dir geben? Dreitausend? Das langt dir nirgends hin. Sagen wir fünftausend. Schau, da ist das Geld.« Und der Wirt habe die Bündel Hunderternoten in der Hand geschwenkt. »Weißt, nur damit Ordnung ist, sollst du mir den Schein da unterzeichnen. Verstehst, daß meine Frau nicht in Not kommt, wenn ich einmal tot bin. Brauchst den Schein gar nicht zu lesen, hast doch Vertrauen zu mir? Oder?« Und er, sagte der Mann, er, Lalli, habe den Schein unterzeichnet. Letzten Samstag sei da ein junger Schnuderi gekommen – nicht einmal einen Kittel habe er angehabt – sei einfach ohne chlopfe i d'Stube g'latschet, frech wie eine Wanze. »So und so… Der Rechsteiner habe alle seine Forderungen an das Büro Krock in St. Gallen abgetreten. Er sei der Vertreter des Herrn Joachim Krock, und da der Bauer sich verpflichtet habe, am 1. Juli zu zahlen, so sei er hiermit schon einen Monat im Rückstand…« »Er hat mir den Schein gezeigt, der Lalli… Sechstausend soll ich schuldig sein! Fünf Prozent für Versäumnis und Spesen und weiß ich, was alles noch… Kurz, ich bin statt fünftausend – sechstausenddreihundert schuldig. Woher soll ich das Geld nehmen? Und ich hab' unterschrieben, weil ich Vertrauen gehabt hab'. Zu einem, der auf dem Sterbebett liegt, muß man doch Vertrauen haben, nöd wohr, Herr Pfarrer? Was soll ich jetzt machen? Er hat mir mit der Gant gedroht! – Zwar, wie ich gehört hab' soll er inzwischen gestorben sein, der Kerli. Aber hinter ihm sind noch andere, die ich nicht kenn'. Und die schöne Strickmaschine. Chönd no gi luege!«
Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen. Der Pantograph sah aus wie der vertrocknete Arm eines Achtzigjährigen. Staub lag auf allem: der Maschine, die schon lange nicht mehr geölt worden war, den Stühlen, und auch auf dem Fensterbrett lag er in einer dicken Schicht – wie ein Stück morscher Stoff sah er aus, und die winzigen Enden von Stickseide darin waren Muster, hineingewebt von der langen, der arbeitslosen Zeit…
»Und überall ist es gleich«, sagte draußen der Pfarrer. »Der Meßmer wenigstens ist ehrlich mit Euch gewesen, Wachtmeister. Aber allen Männer hat es der Rechsteiner ähnlich gemacht: Geld vorgeschossen, und dann mußten die Vertrauensvollen einen Schein unterzeichnen, den sie nicht gelesen hatten. Aber glaubt Ihr, ich könne die Männer dazu bringen, eine Kollektivklage wegen Wuchers zu erheben? Unmöglich. Jammern können sie, sonst nichts. Und zahlen wollen sie, wenn sie können. Sie möchten nicht, wie sie sagen, der Spott der anderen Dörfer werden – lieber lassen sie Haus und Hof und Wälder und Wiesen verganten… Es sieht ganz so aus, als hätten die Leute, die diese Spekulation gemacht haben, genau gewußt, mit was für einem Menschenschlag sie es zu tun haben. Denn es ist unmöglich, daß der Rechsteiner allein das Geld aufgebracht hat, das nur in diesem Dorfe ausgelehnt worden ist… Denket doch: dreißig Höfe. Und auf jedem sitzt ein Mann, der zum mindesten fünftausend Franken erhalten hat. Zum mindesten, sag' ich. Bei anderen waren es zehntausend, zwanzigtausend – bei einem (er hat zwei Hektar Wald) waren es sogar vierzigtausend. Nehmt ein Mittel von fünfzehntausend… fünfzehntausend mal dreißig macht vierhundertfünfzigtausend, rund eine halbe Million. In Grab ist es auch so und in Happenröti und im Rabentobel. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß hier in der Umgebung etwa zwei Millionen Schweizerfranken investiert sind – investiert! um das gruusige Finanzwort zu brauchen!«
Pfarrer de Quervain schwieg.
»Herr Pfarrer!« sagte Studer und blieb mitten auf der Straße stehen. Noch hingen ein paar Fetzen des grauen Tages an den Wipfeln der Bäume, an den Firsten der Hausdächer. Aber schon
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