Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
Vom Netzwerk:
das Marschenland hinter dem Fluß.
    So zogen die Jungs nach Norden, nahmen die Bogenbrücke über die Lesum und folgten bald auf einem unbeleuchteten Weg ihrem Lauf. Aus dem Schilf stieg der Schatten eines großen Vogels, und vor ihnen lagen die Spuren der Eiszeit; ungehobeltes, welliges Land, mit Buchenwäldern auf den Dünenketten und Schmelzwasserfurchen. Auf einer Moräne mit Blick über das Schwemmland die Lichter einer alten Kaufmannsvilla. Die Brennhexe schnurrte, und erst in Vegesack zogen sie wieder auf beleuchtete Straßen; sie hielten ihre Richtung, und bald weichten die Stadtbilder auf. Bereits Rönnebeck erschien dörflich, vereinzelt standen noch Heide und Kiefern, und zum Fluß hin, vom Gipfel der Ufermoräne, fiel das Land schroff, und dahinter öffnete sich der Raum. So zogen sie nach Norden. Bogen in die Sielstraße, kamen an einem heruntergekommenen Hof vorbei, ein Misthaufen dampfte, und ein Kettenhund schlug an.
    Der Bunker war ins Schwemmland gebaut und die Biegung am Fluß tief eingeschnitten. Nur ein Fetzen lag noch dazwischen, quasi die Schleife, die die Nazis als letztes hatten durchtrennen wollen. Sie hatten Stahl und Beton einer ganzen Stadt komprimiert, um dahinter U-Boote zu bauen, und trotz seiner Mächtigkeit fiel der Bunker kaum auf. Wie eingeschmiegt in die Schilfgürtel und Marschenwiesen lag er da. Doch schon aus der Entfernung spürten die Jungs seinen Hauch; den Wahnsinn nach der ganzen Welt und eine 1000 jährige Kälte. Und noch die Stille rings war seltsam beklemmend; als könnten die Nazis jederzeit auferstehen oder die Schreie der Zwangsarbeiter aus seiner Masse drängen. So stand der Bunker in die Welt geschlagen und dunkler als die Nacht. Eine Verdichtung menschlichen Wahnsinns, die noch allen Bomben trotzte und jedes Millenium zum Wimpernschlag machte; tausend Jahre der kalte Atem der Geschichte, tausend Jahre Wiederauferstehung, und dann der nächste Wimpernschlag. So zog der Bunker bald alles hinter seinen Horizont, wie ein schwarzes Loch, machte alle Ereignisse und noch die Zeit unbegreiflich.
    Algen und Moose liefen an den Bunkerwänden, Stränge von Flechten. Krustige Ablagerungen schienen wie ein Riff zu wachsen, vereinzelt hatten sich Birken festgekrallt, und zum Fluß hin erstreckten sich die Schilfgürtel. Auf dem Wasser kräuselte der Sichelmond, und manchmal sahen die Jungs diffuses Geflatter, Nachttiere, meinten sie, oder verlorene Seelen, und so spürten sie den Bunker noch im Rücken.
    Sie bogen flußabwärts, das Schilf raschelte, der Deich erhob sich, dann hielten sie in einem Erlenbruch. Am Rand fanden sie trockenes Holz und füllten die Kiste auf der Brennhexe. Schlosser holte den Knasterbeutel, und eine Weile saßen sie schweigend. Aus dem weichen Boden stiegen dumpfe Gerüche.
    Dann hörten sie die tiefe Eröffnung – tschuk-tschuk –, und dann sprudelten dicht gereihte Einzeltöne auf, die bald fülliger, bald geschliffener wurden und sich schließlich, von Doppeltönen in die Höhe gezogen, zu einem unglaublichen Schmettern verdichteten. So saßen sie und lauschten der Nachtigall.
    Als der Lichtkegel wieder auf das schmale Betonband fiel, lag rechter Hand das weite Schwemmland; links stand der Deich, und Schlosser schaltete runter, gab Gas, und sie zogen johlend gegen die Böschung.
    Auf der Krone ritten sie dahin; sie hatten Blick über den Fluß, ein Richtfeuer kreiste, und voran, noch halb in der Biegung, schob sich das Schwergutgeschirr eines Dampfers gegen das kräuselnde Silber. Landwärts war Dunkelheit, und erst nach einer Weile gewahrten sie den Raum. So ritten sie dahin; durchmaßen schweigend die Weite wie einst Juri Gagarin, und noch in diesem großen Gefühl bewahrten die Jungs ihre Demut. Sahen das Band der Milchstraße, spürten das Lied der Nachtigall.
    Die Wurt war die einzige Erhebung weit und breit; ein alter Siedlungshügel, auf dem noch die Reste einer Kate standen.
    Feuchtigkeit stieg aus den Wiesen, und manchmal drangen Rufe durch die Stille. Frösche, meinten sie, oder Nachtreiher, und letztes Jahr, sagte Schlosser, hätten Brachvögel genistet, aber in diesem Frühling wären sie nicht wiedergekommen.
    Der Boden war weich, der Wildwuchs kniehoch. Sie spürten die Erhebung kaum, eine winzige, menschgemachte Bastion gegen tausend Jahre Gezeiten. Bei der verwitterten Kate rüsteten sie die Lampe;

Weitere Kostenlose Bücher