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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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und mit erschrecken übersetzt wurde. Das abgeleitete Hauptwort wurde traditionell zur Schreckensherrschaft, die singuläre Bedeutung war jedoch im Laufe der Geschichte aufgeweicht. War fülliger und biegsamer geworden, so daß Terror heutzutage auf jedes rücksichtslose und gewalttätige Vorgehen paßte, und natürlich gab es jede Menge Anekdoten von der Antike bis in die Neuzeit.
    Als die Minute verstrichen war, strömten die Jungs aus der Kabine, und die Unterhose blieb verschwunden. Also Terror. Und Achim-das-Tier und Jan-Carl verschwendeten keine Zeit. Noch vor dem nächsten Unterricht hatten sie sich den Primus herausgepickt, ihn in eine Nische gedrängt und gefleddert. Ganz eindeutig in ihrer Absicht, mit brutalen Gesichtern und einer Haltung, die keine Hilfe mehr für den Politikersohn zuließ. Wie ein zerfleischtes Bündel hockte er in der Nische, und als sie die Unterhose bei ihm fanden, schien es, als käme sie direkt aus seinen Eingeweiden.
    Sie schleppten ihn ohne Umschweife zum Rektor.
    Der Politiker erschien ohne Dienstwagen, quasi inkognito. Er nahm einen Seiteneingang, wo ihn der Rektor erwartete.
    Der Staatsanwalt kam zehn Minuten später. Mit Goldrandbrille und wehenden Schößen stieß er durch den Haupteingang. Kanzelte den Rektor ab und preschte direkt zum Sohnemann.
    So hockten die Väter mit den Söhnen. Hier der Politiker, da der Staatsanwalt, und nur der Arbeiter war nicht erschienen. Der bog Eisen für Onassis und schulterte noch die Wasserköpfe des Landes, damit sie ihren verweichlichten Söhnen das Händchen halten konnten. So saß Achim-das-Tier mit spöttischem Blick.
    Bald zogen die Väter sich zurück, bald winkten sie den Rektor dazu, und am Ende schienen alle zufrieden.
    Ã–ffentlich wurde nichts.
    Doch der Politikersohn wechselte die Schule, und das Geschwätz lief um.
    Dann traten die ersten Verzerrungen auf, und aus dem Geschwätz entwickelte sich eine Dynamik; bald scherte sich niemand mehr um Mutation oder Hypertrophie, und neue, ungeheuerliche Gedanken traten in Erscheinung. Und solange sich dabei alles auf Konrad Leysieffer fokussierte und jeder andere fein raus war, schienen alle von diesem Ungeheuerlichen fasziniert. Als ratterten Lochstreifen durch ihre Köpfe, als hinterließe der Nadeltanz überall das gleiche Muster, und so verwandelte sich der verschwundene Primus, und am Alten Gymnasium trat das Wort Homosexualität in Erscheinung.
    Natürlich war das ein Knaller. Das war pikant, das war clandestin, das war Zündstoff, und obwohl anfangs kaum jemand etwas darüber wußte, erschienen sie bald alle aufgeklärt. Die Wissenslöcher wurden von allen Seiten gestopft, Konrad Leysieffer wurde eine Schwulität, ein Uranist, eine homophilistische Natter, und jeder hatte ein paar Brocken parat. Sie erzählten von Knabeninitiation, vom scholastischen Feuertod oder von institutionalisierter Anomalie; in der Bibliothek blätterten sie den 175 er-Paragraphen nach, sie fanden heraus, daß es staatlich verordnete und militärisch überwachte Päderastie gegeben hatte, sie stießen auf die mit Bigotterie oder Absolution vertuschten Schändungen in der katholischen Kirche, und überall grassierte das Wort und schlug seine Haken tief in die Köpfe.
    Es war ein erstaunlicher und gieriger Wissenshunger; ein ständiges Schwatzen gegen die eigene Ausgrenzung, und so wucherte eine neue Welt auf dem Schulhof, dunkel und clandestin schrill und phantastisch, und weil sie nichts verwarfen und mit allem hantierten, mußte sich dieses seltsame Phänomen natürlich aus der Geschichte lösen, und Konrad Leysieffer konnte kein Einzelfall bleiben. So stießen sie auf Freud oder Hirschfeld, und als ihnen der Kinsey-Report in die Hände fiel, mußten sie erkennen, daß fünfzig Prozent der Amerikaner schwul waren. Und wenn diese Menschen dort – im Grunde Europäer, nichtwahr – zu fünfzig Prozent so eine Veranlagung entwickelten, kapierte jeder, was diese Statistik bedeutete.
    Bald traute sich in der Umkleide keiner mehr, den anderen anzusehen. Jeder pfiff den Mädchen hinterher, jeder war scharf auf Revueblätter, und wenn es drauf ankam, hatte es jeder schon mal gemacht.
    Dann fand jemand raus, daß auch die Mädchen homosexuell sein konnten; der Lateinlehrer lieferte mit Anekdoten zu Sappho prompt den geschichtlichen Hintergrund, und von der Insel dieser

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