Kronhardt
der Vier, Hultschinek, und er genoà das Gefühl seiner Höhe. Und aus dieser Höhe verlangte er auch Rapport; er lieà Hultschinek sitzen, er erschuf bald eine Atmosphäre, die nichts Vertrautes mehr duldete, und von Willem erwartete er, daà er jedes Flackern in den Augen des Stickmeisters registrierte. So stand Kronhardt mit seinem Blick über die Nasenwurzel, unterbrach den Bericht, gab neue Order, und Hultschinek senkte schlieÃlich den Kopf. Willem sah sich das an, und sobald Anton Hultschinek dann seinen groÃen Schlesierschädel wiegte und zu bedenken gab, daà diese oder jene Order wohl so oder so umgesetzt werden könne, dann jedoch die Anweisungen durchkreuzen würde, die er bereits von der gnädigen Frau erhalten hätte, wurde Kronhardt mit einem Schlag wieder vertraulich. Langte in die Blechschachtel und lobte das Gebäck, erkundigte sich nach Hultschineks Erfolgen in der Kaninchenzucht, und zu Willem sagte er: Was, mein Junge! Wir halten die Welt am Rattern.
Willem erarbeitete sich seine alte Freiheit bröckchenweise zurück. Er hatte erfahren, wie zerbrechlich und offen sie vor der ganzen Welt zutage liegen konnte. Also entwickelte er Disziplin und Strukturen, legte fehlerfreie Hausaufgaben vor, lieà Siegfried seine Schlachten gewinnen und erfüllte alle Anforderungen, die in den Miniaturanfertigungen von Anzug und Kittel steckten. Und wenn die Mutter Einsicht wünschte, gab er sich einsichtig und lieà sie noch seinen Schmerz über die eigene Schuld erahnen. Er lebte in einer Welt, die nichts mehr mit den Welten seines Vaters zu tun hatte. Doch gerade sie erschienen ihm als Freiheit, und sobald die Mutter ihn wieder in die Nachmittage ziehen lieÃ, konnte er dieses Wunder jenseits der festinstallierten Alltagsgesetze spüren.
Eines Tages erschien Kronhardt mit einem neuen Kittel in der Hand. Ein feiner Stoff, der beinah wie Schnee leuchtete, und für Kronhardt war dieser Kittel Ausdruck einer höheren Kultur. Er hielt den Jungen jetzt für reif genug, den Sinn hinter dieser Kultur zu erfassen, und so muÃte Willem in den Kittel schlüpfen. Ein seltsam feierlicher Moment, und Kronhardt war wie ein groÃer Geist, der den Jungen nun unwiederbringlich in eine andere Wirklichkeit überführen würde.
So legte der Alte seine Hände auf Willems Augen und lieà ihn voranmarschieren. Links, sagte er, und rechts, sagte er, und Willem wuÃte jederzeit, wo sie sich befanden. Bald zogen sie durchs Zwischengeschoà und am Wohnzimmer vorbei, bald nahmen sie Weg durch das Doppelbüro der Alten und traten in den hinteren, abgetrennten Teil, den Kronhardt sein Arbeitszimmer nannte. Dort nahm er die Hände von Willems Augen und drückte ihn in einen Stuhl. Die Lampe über dem Eichentisch brannte, und wie ein Meister schritt Kronhardt an die Vitrine, holte einen Spezialkasten hervor und stellte ihn bedächtig auf die Samtunterlage. Der Kasten hatte einen Rolldeckel und Schubfächer, eine exklusive Liebhaberei, sagte Kronhardt, und Willem wurde eingeweiht. Es waren aufgespieÃte Tiere hinter Glas.
Jedes hatte vier Flügel, und die Flügel hatten unglaubliche Formen und Muster. Wenn Willem genauer hinsah, erkannte er hinter den Mustern schuppige Anordnungen, und hinter den Schuppen erkannte er schlieÃlich die Pigmente, die unter dem Lampenschirm in allen Farben schillerten.
Kronhardt war versessen auf die Merkmale von GröÃe, Form und Farbe, mit denen er seine Bälge in ein System bringen konnte. Er verbrachte Stunden am Eichentisch, zählte Brust- und Hinterleibsegmente, vermaà Körperlänge und Flügelspannweite, betrachtete Muster und Schillereffekte unter verschiedenen Lichtquellen und vertiefte seine Eindrücke in den Katalogen der Schmetterlingsfreunde. Er hatte eine Anstecknadel, er ging auf Börsen und bestellte im Versandhandel. Und alle wissenschaftlichen Aspekte, die jenseits einer praktischen Einteilung in GroÃ- und Kleinschmetterlinge lagen, hielt er für Unsinn â wozu brauchten diese Tiere Ordnungssysteme aus Oberfamilien und Unterarten? Wem nutzte es zu wissen, ob ein Trägspinner zu den Eulenfaltern gehörte oder ein Goldafter war? Groà und klein genügte, dazu lateinischer Name, Herkunft und die spezifischen Merkmale von Form und Farbe. Mit dieser Nomenklatur, sagte Kronhardt, und dem Wissen um wertsteigernde Merkmale müsse man seine Exemplare betrachten. Mit
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