Kronhardt
streicht, vermischt der Geruch mit feuchter Erde. Letzte Regentropfen glitzern, aus der Ferne der Ruf eines Raben. Willem sieht die leuchtenden Konturen der Frau, und gegen das offene Fenster klingt ihre Stimme hohl.
Ich weià es bis heute nicht, sagt sie, ob wir das so verdient haben. Womit wir uns schuldig gemacht haben. Ein Kind gezeugt, ja. In einen Staat hinein, ja. Doch war unser Staat eine Ausnahme? Hat einzig unser Staat bis in die Kinder hinein gewirkt? Und welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen â die menschliche Fortpflanzung einstellen?
Sie dreht sich um und lächelt auf eine Art. Dann schlüpft sie zurück unter die Decke.
Wir sind nicht mehr in die Gauck-Behörde gefahren. Zum Guten für unser Kind, und Boris hat auch nicht mehr davon gesprochen, die Vergangenheit auf diese Art aufarbeiten und überwinden zu wollen. Er extrahierte Musik aus unserem Leid und seinen Anfällen, und mit der Zeit erschufen wir uns wieder einen angenehmen und schönen Rhythmus in unserem Alltag. Wir fanden wieder Zugang zu den Dingen, die uns guttun, und wir stellten uns vor, daà es auch Tatjana gutging. Ich entdeckte Yoga für mich und konnte auch Boris dafür interessieren, so daà er bald ein paar Ãbungen fand, die Starre und Schwermut in seinen Anfällen mildern. Tatjana hat sich nicht wieder gemeldet. Wir werden uns wohl nie daran gewöhnen, dennoch hatten wir vor allem die letzten zehn Jahre doch ein angenehmes Leben mit sogar unbeschwerten Momenten. Boris, wie gesagt, kompensiert viel über seine Musik, doch er kann sich auch darüber freuen, daà seine Musikalität so hohe Anerkennung erfährt.
Katja sieht Willem an. Ich will nicht klagen. Die letzten Jahre waren schön. Doch dann hat es Boris wieder gepackt, und er fuhr nach Berlin. Und dann fuhr er immer wieder hin, auch zwischen den Konzertreisen. Wer hat uns bespitzelt? Wer hat so intrigiert, daà wir ausgebürgert und von unserem Kind gerissen wurden?
Dann stieà Boris auf eine Spur. IM Radetzky, und bald verdichtete sich diese Spur, und er war sicher, den Spitzel und Intriganten in unserem Leben gefunden zu haben; er war auch sicher, daà hinter diesem IM schlieÃlich Ernst Delitzsch auftauchen würde. Und unlängst nun, sagt Katja, bevor sie ihn nach New York einluden, konnte er Radetzky enttarnen.
Im Zimmer spüren sie, wie hinter der Gewitterkühle schon wieder Hitze bläht. Der Himmel ist milchig und gleiÃend, unter der Sonne stridulieren Heuschrecken. Katja nimmt das Wasserglas, und Willem sieht zu, wie ihr Kehlkopf unter den Ringmuskeln springt. Es ist nicht Delitzsch, sagt sie schlieÃlich. Dann sieht sie ihn an. Tatjana ist Radetzky.
Unsere Ausbürgerung und die Trennung von Tatjana waren gut geplant. Eine feine Zeitabstimmung bis hin zum Konzert mit Karajan und Tatjanas plötzlichem Brechdurchfall. Dann die Verzögerungstaktiken bis hin zum westlichen Medienrummel und dem anrührenden Moment, als wir unser Kind wieder in die Arme schlieÃen durften. Das alles war geplant. Und daà Tatjana danach im Westen wie ein Instrument funktionieren konnte, war das groÃe Ziel hinter diesem Plan. Eine anrührende und unauffällige Assimilation beim Klassenfeind, und wenn Tatjana gut funktionierte, würde sie sich irgendwo und irgendwann eine sensible Position erarbeiten und den Genossen all das Gute, das sie ihnen verdankte, zurückzahlen.
Daà Boris dieses Geheimnis aufgedeckt hat, macht natürlich nichts leichter. Nicht für uns, Tatjana oder diejenigen, die hinter diesem Plan stecken. Wahrscheinlich waren sie es, die Boris heimlich photographiert und so versucht haben, ihn einzuschüchtern. Aber wahrscheinlich fühlen sie sich auch jetzt noch sicher, weil wir wohl erst unser Kind an den Pranger stellen müÃten, um an ihre Namen zu kommen. Ich weià es nicht.
Katja sitzt im Bett, die Tusche um ihre Augen ist zerlaufen. Das Licht der absteigenden Sonne steht wie Bernstein in der Gaube. Wer hat unserem Kind das angetan? Wer ist so schrecklich, Willem. Wir?
Das tiefe Sonnenlicht fängt sich in ihrem Haar, und neue Tränen tragen die Tusche tiefer. Seit Tatjanas Geburt, sagt sie, ist es unsere Liebe gegen die Liebe der anderen. Oder nicht?
Eine Woche später sitzt Willem hinterm Schreibtisch; kräftiges Licht fällt in den Spitzgiebel, der Kaktus leuchtet, und auch Jawlenskys Landschaft.
Auf Katjas Klopfen hin lächelt er.
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