Kronhardt
wieder. Sie kamen mit einem Lastwagen nach Bremen und hatten unsere Sachen aus der alten Stadtvilla dabei. Auch die Bänder und das Magnetophon, aber zu Tatjana konnten sie nichts sagen. Sie wuÃten genausowenig wie wir, was nach unserer Ausbürgerung mit ihr geschehen war. Auch über Ernst Delitzsch wuÃten sie nichts.
Beim nächsten Besuch hatten die Freunde ihre Instrumente dabei. Boris hatte ein paar Stücke geschrieben und über die Kammerphilharmonie einen schönen Raum mit Konzertflügel bekommen. Die Gestaltung seiner Musikstücke hatte etwas Ãberwältigendes; eine Kreativität und Entfesselung, die mühelos Barock, Klassik und Jazz verschmolz, und Boris spielte sich in einen Zustand, der auch auf die anderen übersprang. Wir waren alle begeistert, und bald gab die Combo ihre ersten Auftritte. Vor allem Boris, mit seinem Mythos als Dissident, als Vater, dem man das Kind geraubt hatte, und mit seinem Namen als Musiker, machte die Combo bald über die Fachkreise hinaus bekannt. Sie wurden auf Festivals eingeladen, sie waren im Studio oder unternahmen kleine Konzertreisen, und ich glaubte, daà Boris seine Anfälle recht gut über die Musik kompensieren würde.
Doch dann verstieg er sich in die Idee, Tatjana auf einem Konzert zu begegnen. Und wenn er über seinen Kompositionen saà oder im Studio, glaubte er, daà seine Musik, einmal in Tatjanas Ohren, die schönen Erinnerungen in ihr wieder hervorholen müÃte. Unsere Geborgenheit vor dem Magnetophon, unsere Kapsel, doch wir sahen nichts und hörten nichts von Tatjana. Und Boris begann darauf zu drängen, in der Gauck-Behörde nach Spuren unseres Traumas zu suchen.
Ich war dagegen. Ich war bereit, auf Schuld und Sühne zu verzichten, und wollte diesen Teil unserer Vergangenheit nicht wiederbeleben. Doch Boris wollte aufarbeiten, um zu überwinden, und schlieÃlich begleitete ich ihn nach Berlin. Es gab Kilometer von Akten, und die wenigen, die bereits gesichtet waren, brachten uns nicht weiter. Weder Ernst Delitzsch war verzeichnet noch jemand, dem wir die Ãbergriffe gegen uns zutrauen mochten. Nach Freunden oder Bekannten suchten wir erst gar nicht. Doch wir empfanden beide die Bitternis der Situation, es tun zu können.
Auch bei seinem nächsten Besuch in der Behörde begleitete ich Boris. Wir blieben drei Tage in Berlin und verbrachten die Hälfte davon mit den Akten. Als wir wieder zu Hause waren, meldete sich Tatjana. Sie rief uns abends an, und am nächsten Vormittag landete ihre Maschine aus Frankfurt. Tatjana trug einen eleganten Hosenanzug, ihr Haar war kurz geschnitten und glänzte. Sie war in kühlen Farben geschminkt und sagte uns, daà sie mit der nächsten Maschine wieder zurückfliegen werde. Wir gingen ins Café auf der Aussichtsterrasse, und dort nahm sie ihre Sonnenbrille nicht mehr ab. Sie rauchte viel, und wir ertrugen all das Fremde, das sie offenbarte. Die radikale Umkehrung ihres so fröhlichen und aufgeschlossenen Wesens, ihre herzlose Art, mit der sie noch unsere Liebe zu einer stillen Anklage zergliedern konnte. Wir ertrugen ihre Kälte, wir verziehen unserem Kind alles, und Tatjana saà elegant gegen unsere Hilflosigkeit; sie stieà ihren Rauch in die Höhe, und das Fremde in ihrem Gesicht wirkte erschreckend echt. Das einzige, sagte sie, womit wir ihr je geholfen hätten, sei der Name Bloch. Mit diesem Namen und der Geschichte dahinter hätte sie bei den Vorstellungsgesprächen tatsächlich einen kleinen Vorteil gehabt. Den habe sie genutzt, aber daà sie mittlerweile Junior-Managerin in einem weltweit operierenden Kapitalunternehmen sei, habe nichts mehr mit uns zu tun. Das sei allein ihr eigenes Verdienst, und sie werde sich ihr Leben nicht noch einmal von uns zerstören lassen. Und dann sagte sie uns, daà wir endlich damit aufhören sollten, sie mit der Vergangenheit zu beschweren. Daà wir in der Gauck-Behörde wieder und wieder das Alte hervorholten, sagte sie, bleibe nicht verborgen, und zuletzt sei es wieder sie, die darunter zu leiden habe. Sie forderte uns ganz entschieden auf, unsere Schnüffeleien zu unterlassen. Dann verlieà sie uns. Es zerrià uns das Herz, doch wir blieben bereit, unserem Kind alles zu verzeihen.
Katja steht am Fenster und raucht. Wolken ziehen dahin, aufgetürmt und in mächtigen Farben unter der Sonne. Dampf steigt vom Reetdach, und wenn eine Brise ins Zimmer
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