Kronhardt
südwärts gezogen; ein violetter Himmel markiert den Horizont, davor zertreiben dunkle Regenschlieren. Manchmal schlägt ein Blitz seine Ãste aus, doch den Donner hören sie nicht mehr.
Katja liegt unter der Decke, und manchmal steigt aus der Wärme dort ihr Geruch auf. Willem ahnt, wie die Vergangenheit unablässig hinter ihren Augen auftaucht und längst alle Gegenwart umschlingt. Boris, sagt sie, könnte jetzt gelandet sein.
Tatsächlich dauerte es aber noch, bis Tatjana endlich zu uns kam. Zwar konnten wir regelmäÃig mit ihr telefonieren, und Tatjana beruhigte uns auch, sagte, sie werde gut versorgt, sie vermisse uns und so weiter. Doch das Befremdliche in ihrer Stimme blieb, und wenn dann Ernst Delitzsch mit unserem Anwalt sprach, berief er sich immer wieder auf Tatjanas gesundheitlichen Zustand, versicherte die Fürsorge der Deutschen Demokratischen Republik, den Respekt vor der Familie und daà ein Prozeà nicht nötig sei.
Boris bekam wieder seine Anfälle, unser Anwalt forcierte den Fall, telefonierte mit Medien und Politikern, und bald wuÃte auch die Ãffentlichkeit, daà die DDR die Tochter des ausgebürgerten Musikers Boris Bloch festhielt. Auch das Fernsehen interessierte sich, und weil Boris und ich uns nicht in der Lage dazu fühlten, vor der Kamera unseren Schmerz auszubreiten, gab unser Anwalt dem Sender ein Interview. Danach ging es relativ schnell. Delitzsch meldete, daà Tatjana nun regeneriert sei und ihrem Wunsch, zu den Eltern zurückzukehren, selbstverständlich stattgegeben werde.
Als wir Tatjana endlich in die Arme schlieÃen konnten, war es eine Inszenierung. Mit uns standen Presse und Fernsehen am Checkpoint Charlie, Politiker lieÃen sich mit uns photographieren, und während Boris und ich weinten, sprach Tatjana in die Kameras. Ihr Lächeln und ihre Worte wie unter einer kalten Schicht, doch auÃer Boris und mir bemerkte das niemand. Alle sahen gebannt auf diese junge Frau, stellten sich ihre Geschichte in den sozialistischen Fängen vor und genossen mit ihr den glücklichen Ausgang im Westen.
Hinter den Fenstern reiÃt die Wolkendecke auf, und Sonnenstrahlen fallen aus der Höhe wie ein Fächer. Willem spürt die Vibrationen, als Katja leise weiterspricht.
Das Befremdliche in Tatjanas Stimme schien ihr ganzes Wesen erfaÃt zu haben. Alles Vertraute und Offene unserer Tochter schien nicht mehr zu existieren, und sie belud uns in kurzer Zeit mit groÃer Schuld. Anfangs glaubten wir, ihre abweisende Art würde aus der Verletzung herrühren, uns entrissen worden zu sein, und wir waren bereit, ihr alle bösen Worte zu verzeihen. Hinter all der zergliedernden Kälte, die sie gegen uns aufbrachte, glaubten wir immer noch das reine Herz unseres Kindes zu spüren.
In Berlin konnten wir die Umklammerung der DDR spüren, und wir wollten weg. Wir wollten einen Neuanfang und hofften vor allem, damit unserer Tochter zu helfen.
Ein Freund von uns gab uns die Adresse seines Bruders in Bremen, und so kamen wir hierher. Wir erhielten finanzielle Unterstützung von der Bundesrepublik, und der Bruder verhalf uns zu einer kleinen Wohnung in einem netten Viertel. Unsere Stunde Null sozusagen, doch wir sahen darin auch die groÃe Gelegenheit zu einem Wiederaufbau aus unseren familiären DDR -Trümmern. Tatjana aber zeigte von Anfang an kein Interesse daran; sie half nicht bei den Anschaffungen und nicht bei der Einrichtung unseres neuen Zuhauses, und wenn wir ihr Bücher kauften oder Musik, die sie drüben gerne gehabt hatte, sah sie uns nur mit kalten Augen an. Während sie für ihre Zukunft plane, sagte sie, falle uns nichts Besseres ein, als sie mit der Vergangenheit zu beschweren. Einen Tag vor ihrem achtzehnten Geburtstag packte sie einen Koffer, und eine Minute nach Mitternacht verlieà sie uns. Danke für alles, sagte sie.
Danach bekam Boris seine Anfälle häufiger. Dazwischen aber bemühten wir uns, das Trauma für uns erträglicher zu machen. Wir wollten die Dinge wiederbeleben, die uns in der alten Heimat so gutgetan hatten. Wir richteten unseren Alltag ein, wir trafen uns mit dem Dirigenten der Bremer Kammerphilharmonie, bald gab Boris ein Gastkonzert, und ich bewarb mich bei Ihnen. Wohin unsere Tochter gegangen war, wuÃten wir nicht, und zweimal in der Woche hatten Boris und ich eine Stunde Gesprächstherapie.
Als die Mauer fiel, sahen wir unsere Freunde
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