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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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Proletariersohn war den Blicken ausgeliefert, und alle konnten sehen, wie sein Körperhaar dunkelte. Wie der jugendliche Flaum sich kräuselte und sproß und sich die Wörter aus Patrizias Mund in magische Kraft verwandelten – nichtwahr: Wo andere haarlos blieben, entwickelte Achim bald einen Pelz.
    Willem überlegte lange, ob diese haarige Entwicklung auch ohne den Wachspenis stattgefunden hätte. Doch eine endgültige Antwort, meinte er, würde es wohl nur geben, wenn man eine Parallelwelt mit einem zweiten Achim installieren könnte. Immerhin hielt er es für realistisch, daß Achims plötzliche Entwicklung ohne die Worte aus Patrizias Mund unauffälliger verlaufen wäre. Sein Pelz wäre einfach untergegangen in der Vielfalt pubertärer Früh- und Spätzündungen, doch jetzt, nachdem der Vorfall so und nicht anders stattgefunden hatte, markierte Achim ganz klare Eigenschaften, eingebrannte Merkmale der Wildnis, einen Sprung zurück in die Stammesgeschichte, und Patrizia von Kattenesch schien von einer Aureole umgeben.
    Und während Willem sich wünschte, ihre reine Nacktheit in diesen Strahlenkranz gebettet zu sehen, wurde Achim zum Tier – eine ganz klare Sache am Alten Gymnasium, und niemand bezweifelte, daß mit dieser so offenbar gewordenen Verrohung auch innere Verrohung verknüpft war. Sie machten einen Bogen um ihn, und einige verspürten mehr Angst als Abscheu vor ihm.
    Für die Lehrer waren Ausgrenzung und Stigmatisierung alltägliche Vorgänge. Die Schule eine Art Becken, und solange Kampf und Tauglichkeit keine Auswirkungen auf die Leistungen in ihrem Klassenzimmer hatten, interessierten sie sich nicht dafür.
    Achim-das-Tier hielt seine Leistungen. Er wurde karg und ruppig in seinen Worten, doch auch als er sich noch entschiedener abspaltete und kaum bei der Sache schien, waren die Lehrer mit seinen Noten zufrieden. Was ihnen aber zu schaffen machte, war seine hemmungslose Verwilderung. So etwas nahmen sie am Alten Gymnasium persönlich, doch selbst der Rektor schien machtlos gegen diese Beleidigung. Achim saß ihm wortlos gegenüber und starrte auf den Boden. Und als der Rektor die Eltern einbestellte, mußte er einsehen, daß vor allem der Vater nichts auf Etikette gab; ein kräftiger Mann mit riesigen Händen, der seinen Sohn verteidigte und zuletzt mit Gewerkschaft und Bürgermeister drohte.
    Also kam Achim-das-Tier weiter im Drillich der Werftarbeiter oder mit Nankingjacke und Bolschewistenmütze. Er ging nicht zum Frisör, er rasierte sich nicht, und in der alten Tasche des Vaters steckte jetzt ein Expander.
    Um die Handgriffe hatte er Mull gewickelt, die Metallspiralen waren angelaufen, und in den Pausen zog er wie besessen. Mit dem Quietschen kehrte sein Blick noch tiefer; die Adern pumpten, die Muskeln sprangen, und ein Zittern stieg bis ins Gesicht. Bald zitterte auch die Schädelhaut, und bald schien alle Anspannung aus der Fontanelle zu spritzen; so stand Achim-das-Tier, und sein starrer Blick war ausgetreten aus der Realität des Schulhofs. Spiralquietschen und Widerstand waren nach innen transformiert, und zuletzt schien nur noch sein Gehirn den Expander zu ziehen.
    Mann, sagte Harald.
    Schnauze.
    Mann, vergiß von Kattenesch und Lasalle.
    Schnauze, sag ich.
    Willem stupste Harald an. Wenn er spricht, quellen seine Augäpfel vor.
    Und plötzlich ließ Achim den Expander zusammenschnalzen. Vorsichtig, Kronhardt, ganz vorsichtig!, und seine Muskeln bebten, und sein Atem war heiß und gefährlich. Und so ging es weiter. Strecken, Beugen, alles bis unter die Fontanelle; vor Schulbeginn, in der ersten Pause, in der zweiten. So spaltete Achim-das-Tier sich ab. So zersetzte sich die Welt hinter seinem tiefgekehrten Blick; nur noch der Singsang der Spiralen, das Zittern, und der haarige Junge hinübergetreten in irgendwas. So wurde der Mull um die Griffe schwarz, und noch wenn die Glocken das Pausenende schlugen, pumpte er und spuckte den Clubjacken und allen hinterher.
    Dann kam er nicht mehr zur Schule.
    Zwei Tage nicht, drei, und Harald zuckte mit den Schultern. Nichts zu wollen, sagte er. Ich hab geklingelt, und wie die Mutter aufmacht, hat sie auch gleich angefangen. Geheult und die Tür wieder zugemacht.
    Am vierten Tag fragte Harald den Klassenlehrer, doch der machte nur ein Geräusch mit der Zunge. Meine Fresse, sagte Harald. Was is da nur los.
    Niemand sagte etwas, wußte etwas,

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