Kruzifix
Ikea. Ein Kind, ich schätzte es auf anderthalb Jahre oder so, war in einem Hochsitz für Babys eingezwängt und schrie, ein etwa zwölfjähriger Bub schaute Fernsehen.
»Geh naus in Garten, Alain.«
»Warum? Ich will fernsehen, die Sendung ist noch nicht aus.«
»Naus!«
Widerwillig maulend ging der Bub mit einem Leck-mich-am-Arsch-Gang hinaus. Er hatte keinen Pferdeschwanz. Eigentlich ein ganz fescher Bursche, sein junges Gesicht hatte er hinter ungewaschenen Zotten versteckt, sah aus wie ein Shetlandpony. Ich fragte mich, wie er mit der Frisur fernsehen konnte. Vielleicht genügte ihm der Ton.
»Können Sie ein Auge auf den Kleinen haben, das Peterle? Ich häng die Wäsche geschwind fertig auf.«
»Gern«, sagte ich.
Sie ging.
Das Kind schrie.
Ich nahm den Buben aus dem Kindersitz. Setzte ihn auf den Boden.
Holzbauklötze lagen herum.
Ich setzte mich zu ihm.
Erinnerte mich an meine aktive Zeit. In meinem Behandlungszimmer standen immer: Eine Couch. Ein Sessel. Eine Kiste mit Bauklötzen.
»Spielen?«
Er hörte auf zu weinen.
»Bielen bielen.«
Er nahm die Bauklötzchen. Baute einen Turm.
»Turm«, sagte ich.
»Ummm«, sagte er.
Dann nahm er einen langen blauen Klotz.
»Tsch tsch tsch …«
»Ein Tschtschtsch. Ein Zug.«
»Uuug.«
Er nahm einen langen roten Klotz.
»Tsch tsch tsch.«
»Noch ein Zug.«
»Uuug. Uuug.«
Dann nahm er die beiden Klötze, jeden in eine Hand. Er ließ sie aufeinander zufahren, aber sie fuhren aneinander vorbei.
Er: »Ei. Ei.«
Ich: »Eieiei.«
Er: »Ei! Ei!«
Er wiederholte die Bewegungen. Der blaue und der rote Klotz fuhren immer wieder aneinander vorbei.
»Schön«, sagte ich.
»Ei! Ei! Ei!«
Er wurde zornig. Ich begriff nicht.
Er ließ die Züge ständig aneinander vorbeifahren, schrie:
»Eieieiei!«
»Die fahren ja aneinander vorbei!«
»Ei, ei!« Zustimmung.
Auf einmal warf er den blauen Klotz weg. Mit voller Wucht in die Ecke.
Ich sagte:
»Weg ist er.«
»Eg.«
Den roten Klotz schob er zum Turm. Er wurde in den Turm eingebaut.
»Der geht zum Turm.«
»Urrrm.«
»Ja, der ist im Turm!«
»Urm butt!«
Er schlug den Turm kaputt, die Klötze krachten überall hin.
Dann schrie er und weinte. Untröstlich.
Er wurde geweint. Von innen heraus.
Ich nahm ihn auf den Schoß.
Er schluchzte in mich hinein.
Ich begriff.
Tränen liefen mir über die Wangen.
Keine Trauer ist schlimmer als Kindertrauer.
Ich hörte die Mutter wiederkommen.
Wischte schnell meine Tränen mit dem Ärmel meines Trachtenjankers weg.
Das Taschentuch war Opfer der grauen Organistin geworden.
»Er weint ja gar nimmer«, sagte sie. »Das ist aber nett, dass Sie ihn halten. Das tut ihm gut. Sein Vater …«
»Was ist mit seinem Vater?«
»Ach nix.«
»Wo ist er denn gerade?«
»Wo alle Mannsbilder sind. In Mühltal. Auf der Kirchweih. Aber was wollen Sie von mir?«
»Eigentlich … eigentlich …«
Eigentlich wusste ich schon alles, was ich wissen wollte. Na ja, ich hatte jedenfalls eine Theorie.
Ich glaube gern an meine Theorien. Ja, mein Glaube an meine eigenen Theorien ist oft stärker als mein Glaube an Gott. Dumm, aber wahr. Ich liebe meine Theorien.
»Eigentlich … bin ich beauftragt vom Bistum, nachzuforschen, was da war am letzten Sonntag. Warum der Pfarrer verstorben ist.«
»Der Theo.«
»Ja, der Theodor Amadagio.«
»Schad drum.«
»Ja …«
Sie konnte nicht weitersprechen. Sie hatte feuchte Augen. Sie fing an zu husten. Rannte zur Spüle. Trank Wasser. Wischte sich das Gesicht ab.
»Der blöde Husten«, sagte sie.
»Sie sind schwanger«, sagte ich.
»Woher …?«
»Ihre Augen. Das Auge ist das Licht des Leibes. Matthäus sechs, zweiundzwanzig. Bergpredigt. Ihre Augen leuchten.«
Ich sagte nicht, dass ich es auch an ihrem Busen sah, der sich voll und rund unter ihrem T-Shirt abhob. Kein BH . Eine saubere Frau, wie man im Allgäu sagt.
Ich sagte auch nicht, dass ihre Bewegungen schwanger waren. Schwangere bewegen sich anders. Zwanzig Jahre Seelsorge in der Geburtshilfe schärfen den Blick.
Außerdem wusste ich es von meiner Nachbarin, der Friseuse. Dass die Toni schwanger war.
»Ja«, sagte sie, und fing an zu weinen.
»Die Hormone«, sagte sie. »Ich muss dauernd heulen. Beim Alain und beim Peterle hab ich gespieben. Jetzt muss ich heulen.«
»Nur wegen der Hormone?«
»Wegen was denn sonst?!«
»Die glauben, der Theo ist nicht durch einen Herzinfarkt oder so was gestorben.«
»Wer ›die‹?«
»Die von der Kirch. Die
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