Kruzifix
mehr reden konnten, fing einer von uns beiden, ich weiß nicht mehr, ob er oder ich, unter dem Sternenhimmel an zu summen:
Großer Gott wir loben dich.
Wir summten.
Herr, wir preisen deine Stärke.
Wir sangen.
»Vor dir neigt die Erde sich
Und bewundert deine Werke.«
Wir schmetterten.
»Wie du warst vor aller Zeit,
so bleibst du in Ewigkeit.«
Ich sagte:
»Das haben wir immer zum Abendmahl gesungen. Und im Heilungsgottesdienst, da kamen mehr katholische als evangelische, da sangen wir: Heilig, heilig …«
Willibald Rössle nahm die Zeile auf:
»Heilig, heilig, heilig, heilig ist der Herr!
Heilig, heilig, heilig, heilig ist nur er!«
Ich stimmte ein, wir sangen zu zweit:
»Er, der nie begonnen,
er, der immer war,
ewig ist und waltet,
sein wird immerdar.«
Dann erhoben wir uns, wankend, der Mond war aufgegangen, der See spiegelte ihn in seinem schwarzen Spiegel, wir sangen voller Inbrunst:
»Heilig, heilig, heilig, heilig ist der Herr!
Heilig, heilig, heilig, heilig ist nur er!
Allmacht, Wunder, Liebe,
alles rings umher!
Heilig, heilig, heilig, heilig ist der Herr!«
Man kann so schön schunkeln dazu!
Wir erwachten, weil wir fröstelten, die Sonne ging auf.
»Ohhh ohhh ahhh, mein Kopf …«
»Hast ein Aspirin?«
Ich brachte uns eine Schachtel Aspirin.
Reichte ihm eines, in Wasser gelöst.
»Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.«
Er antwortete:
»Wohl dem, der auf ihn trauet.«
Ich sagte:
»Gelobt sei Jesus Christus.«
Er:
»In Ewigkeit. Amen.«
Die Morgensonne wärmte uns.
Wie die Penner.
Wir versackten noch einmal in einem Tiefschlaf.
Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.
Und er gab uns eine Mordsidee! Sie war sogar noch brillant, als wir wieder nüchtern waren.
Jahrestagsreaktion
Auf den Tag genau ein Jahr war ins Land gegangen.
Ein Tag nach Himmelfahrt.
Ich saß an der Sonne vor der Alm und rauchte meine Morgenzigarette. Gauloises, die gelben. Der Gesundheit wegen.
Meine Nachbarin kam im Galopp angelaufen. Die mit dem Piercing am Bauch. Falls sie es noch dran hatte. Das Piercing.
Keine Ahnung.
Sie trug eine keusche weiße Bluse und winkte mit der Zeitung.
Aha, hat gewirkt!
Sie rief mir zu:
»Du stehst in der Zeitung!«
Sie kam heran, setzte sich zu mir in die Morgensonne auf die Bank vor der Alm. Sagte:
»Mit Bild. Farbig.«
Auf dem Frontblatt des Kemptener Tagblatts, das in die Allgäuer Rundschau eingelegt war, sah ich ein Bild. Ein Foto.
Es zeigte:
Emil Bär im Talar, mit Beffchen.
Willibald Rössle im Messgewand, mit Stola.
Zwischen beiden zwei junge Frauen. Jede hielt einen schwarzhaarigen Säugling im Taufgewand in den Armen.
Dazu vier Kinder zwischen zwei und zwölf.
Dazu, eher am Rande, eine blonde junge Frau, die eine auffallende Ähnlichkeit mit Willibald Rössle hatte. Neben ihr ein Mann etwa gleichen Alters, der niemandem ähnlich sah.
Meine Nachbarin sagte:
»Das ist ja ein Happy End, mit der Johanna und der Toni. Die beiden passen gut zusammen. Die waren schon immer dicke Freundinnen. Und jetzt wohnen sie auch noch beinander. Im Messnerhaus. In einer Wohngemeinschaft.«
Ich sagte:
»Der Text unter dem Foto schreibt aber etwas von einer Lebensgemeinschaft.«
Meine Nachbarin sagte:
»Ist doch das Gleiche.«
Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass die beiden seit jeher lesbisch waren. Es war ein Tabu. Alle im Dorf wussten es wahrscheinlich. Und sie waren wahrscheinlich auch nicht das einzige Lesbenpaar.
Sie sagte:
»Ich hab gar nicht gewusst, dass du regelmäßig in der Zeitung schreibst. Ich les den religiösen Teil nie.«
Reine Ablenkung. Über Schwul spricht man nicht.
Ich sagte:
»Ja, seit einem Jahr schreib ich die Kolumne ›Kruzifix‹. Jeden Samstag. Das hab ich schon vorher gemacht, in Würzburg, da hat sie ›Gott und die Welt‹ geheißen. Dann bin ich letztes Jahr gleich nach meinem Ruhestand zur Zeitung nach Kempten, und die haben mich mit offenen Armen aufgenommen. Sie haben mir meine Texte direkt aus der Hand gerissen.«
Wenn sie schon nicht über die Lesben in Tal reden wollte, log ich sie wenigstens ordentlich an. Außerdem war es die Version, die ich mir in Wahrheit vorgestellt hatte. Ich hatte mir vorgestellt, die hätten nur auf mich gewartet. Aber ich war aufs Peinlichste abgeblitzt, doch plötzlich drehte sich der Wind, der Chefredakteur wurde freundlich und bot mir großzügig eine Kolumne an. Und falls ich sonst noch Storys hätte. Oder Features. Whatever.
Ich konnte mir lange keinen
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