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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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Diedorf, aber nicht in dem Gelände hier. Und wenn so sechshundert bis achthundert Kilo lebendiges Rindfleisch über Sie hinwegdonnern, sehen S’ auch nicht mehr so gut aus.«
    Wie der Toni nach meinem Knieeinsatz in seinem Gesicht, dachte ich.
    Ich sagte:
    »So viel wiegen die?«
    Er sagte: »Eine davon. Eine einzelne. Sechshundert bis achthundert Kilo. Ohne Milch.«
    »Ach«, sagte ich, »hier ist ein Stecken.«
    Ich hob ihn auf. Meine Nachbarin mit dem Piercing im Bauch hatte auch immer einen Stecken zum Kühe raus- und heimtreiben, und alle folgten ihr.
    »Legen S’ den Stecken wieder weg«, sagte Willibald Rössle. »Der nützt Ihnen nix. Man muss ihn benützen können. Es stimmt, die Viecher sind an den Augen und an der Nase ganz sensibel. Aber Sie müssen genau da hinhauen, wo es ihnen wehtut. Und Sie haben nur einen Schlag.«
    Ich dachte an den Toni. Der hatte das heraus mit dem einen Schlag. Meine Nase erzählte immer noch ein Lied davon. Einen Schlager …
    »Wenn der Schlag nicht sitzt, sitzen ganz schnell achthundert Kilo auf Ihnen. Und die werden Sie nicht stemmen!«
    »Ho ho ho hoo«, schrie er auf einmal.
    Wie alle Bauern mit ihren Herden.
    »Ho ho ho.«
    Wie ein Weihnachtsmann aus Amerika.
    Ich sagte:
    »He, machen S’ doch die Viecher nicht verrückt. Vielleicht merken die gar nicht, dass wir da durchgehen. Aber wenn Sie so plärren …«
    »Man muss plärren. Kühe haben nur ein eingeschränktes Blickfeld. Aber gute Ohren. Wenn man leise an ihnen vorbeischleicht, steht man, von ihnen aus gesehen, plötzlich vor ihnen, sie erschrecken und denken: Oha, ein Überfall, und wehren sich. Deshalb muss man plärren. Dann wissen sie: Jetzt kommen die Rindviecher, die Urlauber, die Preußen.«
    »Ah.«
    Ich folgte ihm ehrfürchtig, er barfuß wie ein Heiliger, und wir erreichten unbehelligt die andere Seite der Weide, stiegen über den Zaun, und setzten unseren Weg fort.
    »Alle Achtung«, sagte ich, »Sie sind ja ein richtiger Kuhflüsterer!«
    »Ja. G’lernt ist g’lernt!«
    Die Aussicht wurde nun noch weiter, ein Rund-Panorama, wie es sonst nur das neue Röntgengerät meines Zahnarztes von meiner Zahnlandschaft bietet.
    Willibald Rössle sagte:
    »Nach der archaischen Einlage durch die Herde müssen Sie mir jetzt endlich verraten, warum der Theo umgebracht wurde. Wie, das weiß ich jetzt: Der Toni hat ihn erschlagen, der Adolf hat den Abschiedsbrief geschrieben, und die beiden haben ihn am Kruzifix aufgehängt. Warum? Wieso? Wo ist das Motiv?«
    Ich sagte:
    »Vom Adolf seiner Johanna hatte ich den Eindruck, dass sie arg um den Theo trauert. Zu arg. Von ihr wusste ich, dass sie mit ihrem Mann seit über einem Jahr nicht mehr geschlafen hat. Und von meiner Friseurin wusste ich, dass sie schwanger war. Aber die Hunderttausend-Euro-Frage war: Schwanger von wem?«
    »Na ja, da legt sich schon ein gewisser Verdacht nahe. Aber das tät vor keinem Gericht standhalten.«
    »Muss es auch nicht. Nur vor Ihnen.«
    »Und haben Sie es dann rausgekriegt, wer der Vater ist? Und wie?«
    »Wo ich die Geschichte zweifelsfrei erfuhr, war bei der Toni. Ihr kleiner Bub, das Peterle, hat es mir verraten, als ich ihr einen Besuch abgestattet habe.«
    »Wie, hat er es gewusst? Wie alt ist der denn?«
    »Knappe zwei.«
    »Spinnen Sie?«
    »Meine psychoanalytische Ausbildung bei den Kleinianern in Australien kam mir zu Hilfe. Die Melanie Klein hatte um 1930 herum eine Methode der Kindertherapie entwickelt. Sie schaute zu, wie Kinder spielen, und zog daraus Schlüsse auf ihr Seelenleben. Ich hab dort bei den Kleinianischen Psychoanalytikern gelernt, dass Kinder einem die schönsten und geheimsten und wahrsten Geschichten erzählen, wenn sie spielen. Ich schaute dem kleinen Peterle beim Spielen zu. Mit seinen Bauklötzen.«
    »Jetzt wird’s aber … ich weiß gar nicht, wie … wie soll ich sagen … das ist schon weit hergeholt … absurd … hoch spekulativ …«
    »Genau. Spekulativ. Ich habe geschaut, und sah zu, wie der Bub seine Eisenbahnen, zwei, aufeinander zufahren ließ. Ich mach’s kurz. Eine Lokomotive ist der Papa, die andere ist die Mama. Wenn sie zusammenbumsen, wissen wir, dass das Kind weiß, dass seine Eltern miteinander schlafen. Bumsen eben. Die Züge vom Peterle sind aneinander vorbeigefahren. Daneben. Da wusste ich, dass die Eltern ›nebenhinaus‹ gehen. Wie man hier sagt. Neben-naus-gehen. Und wo fährt der Mama-Zug hin? Er bumst in den Turm. Der einzige Turm im Dorf ist der Kirchturm. Der Turm vom

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