Kruzifix
Kälbchenbusens.
»Bei den Seniorentellern gibt’s … Püree …«
Rössle lachte dreckig.
Er hatte gut lachen. Er war noch unter fünfundsechzig. Ich schon drüber. Er war noch Pommes, ich schon Brei.
Ich sagte zur Bedienung:
»Dann möchte ich bitte einen Brotzeitteller. Für Erwachsene … Aber der ältere Herr hier möchte vielleicht einen Seniorenteller …«
Rössle lachte nicht mehr dreckig.
Er tat nur noch so, als ob er lachte, sagte:
»Für mich auch einen Brotzeitteller!«
Die Bedienung verschwand. Erleichtert.
Als wir unsere Brotzeitteller für Erwachsene gegessen und bezahlt hatten, standen wir auf.
Ich sagte:
»Da gibt’s noch was zu klären. Honorar.«
Er sagte:
»Ach, diese Erpressergeschichten schon wieder …«
Ich sagte:
»Aufm Rückweg dann …«
Sanctus
Auf dem Rückweg erfuhr ich nichts. Warum zum Beispiel der »Abschiedsbrief« vom Theo verschwunden war und wie Rössle ihn bekommen hatte. Oder was das für ein Techtelmechtel war zwischen ihm und der Dr. Graf. Willibald Rössle war bereit, die zehntausend Euro mehr zu bezahlen. Ich lieferte ihm einen guten Grund: Ich sagte, die Erpressung fände aus humanitären Gründen statt. Die beiden Frauen, Johanna und Toni, beide verwitwet, beide schwanger, bräuchten Geld. Für die ungeborenen Kinder.
Ich sagte, ich gäbe den beiden mein Honorar. Zwanzigtausend plus zehntausend Euro.
Für mich war es auch eine Spende an mein Gewissen. Ohne meine Schnüffelei wäre wahrscheinlich der Toni noch am Leben. Den Toni hatte ich auf dem Gewissen. Der Adolf wäre sowieso verendet.
Als wir wieder an der Herde vorbeikamen und eng am Weidenzaun wanderten – die Lektion über die Kühe hatte ich von meinem Kuhflüsterer gelernt – sagte er:
»So ein Dorf ist wirklich archaisch wie eine Herde.«
Er schüttelte den Kopf. Blickte hinunter auf Tal. Auf den See. Auf den Grünten.
Sagte:
»Das Paradies. Und die Menschen machen sich die Hölle heiß. Männer und Frauen. Männer gegen Frauen.«
Ich sagte:
»Theo hat eine Sünde begangen, für die er gekreuzigt wurde. Er hat die Grenzen verwischt. Das Dorf hat Grenzen zwischen Männern und Frauen. Männer sind Männer, Frauen sind Frauen. Wenn Männer schwul sind, bleibt das geheim. Damit die Männerwelt in Ordnung bleibt. Aber die Frauen haben auch ihre Welt.«
»Wieso?«
»Jedes Mal, wenn ich mit meiner Nachbarin, der Friseurin, redete, wurde sie störrisch wie eine Gams, wenn ich auf die Frauenwelt zu sprechen kam.«
»Und wie ist die Frauenwelt?«
»Anders und doch so ähnlich wie die Männerwelt.«
Er musste ja auch nicht alles wissen. Das war meine Rache dafür, dass er mich auch nicht wissen ließ, was er mit der Dr. Graf zu tun hatte. Und wie die Legende vom Herztod des Theo so schnell für wahr gehalten wurde. Und warum er mir wie ein Komplize beistand, damit ich mich ungestört mit der Frau seines Jugendfreundes treffen konnte. Da waren noch einige Rechnungen offen.
Am Abend saßen wir vor der Alm. Schauten der Sonne beim Untergehen zu.
Tranken.
Zu viel.
Unbemerkt waren wir beim Du angekommen.
Du, Willi.
Du, Emil.
Bei unserer Schulzeit in Augsburg.
Bei unseren Kindern.
Ich bei meinem.
Er bei seinem.
Nach Mitternacht war uns alles wurscht.
»Du hast es gut«, sagte er. »Du hast deinen Job hinter dir. Ruhestand. Du kannst machen, was du willst.«
»Ja, wenn nicht einer kommt und sagt, was ich machen muss, weil er mich sonst verpfeift.«
»Freiheit ist, wenn man sich selber verpfeift.«
»Wie, was?«
»Mir kommt da so eine Idee.«
Er verriet mir seine Idee.
»Willi«, sagte ich, »du bist brillant. Du bist ein Genie. Ich liebe dich.«
»Oha, wie viele Jahrzehnte ist das her, dass ich den Satz zum letzten Mal gehört habe …«
»Wie viele?«
»An die vierzig … Ich war ein junger Student. Verliebt. Sie wurde schwanger. Wir wollten heiraten. Da kam ein anderer.«
Seine Stimme wurde brüchig. Er schnaufte. Er stockte. Er hatte Tränen in den Augen.
Ich sagte:
»Tut noch immer weh …?«
»Zeit heilt Wunden. Aber nicht alle.«
»Und sie …«
»Sie ist zu ihm. Das Bittere ist: Er war mein Freund. Mein bester Freund. Ich bin ins Priesterseminar gegangen …«
Seine Stimme wandelte sich noch mal, als er laut und entschlossen sagte:
»Und jetzt geh ich wieder raus!«
»Wo raus?«
»Aus dem Priesterseminar.«
Es ist nie, es ist nie, es ist nie zu spät …
Am Ende, und ich weiß nicht mehr, zu welcher Nachtzeit das Ende war, als wir nicht
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