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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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Reim auf diesen wundersamen Gesinnungswandel machen. Vielleicht hatte er meine Manuskripte gelesen und fand sie so genial? Inzwischen wusste ich, dass das leider nicht die Erklärung war. Gottes Wege gingen anders, und das Ergebnis war nun in Wort und Bild in der Zeitung zu sehen. Der Artikel lautete:
    »Auf der Gellehöhe über Tal am See vollzog sich bei Tagesanbruch am Himmelfahrtstag, was als ›Wunder von Tal‹ in die Geschichte der Region eingehen könnte. Zu einer Messfeier versammelten sich unter dem Kreuz auf der Höhe bei Sonnenaufgang zwei Geistliche der beiden großen Konfessionen, der katholische Priester Willibald Rössle und der protestantische Pfarrer Emil Bär, um die erste ökumenische Messe in der Diözese Kempten zu feiern. Im Rahmen der Messe wurden zwei Kinder getauft, ein Junge auf den Namen Theo und ein Mädchen auf den Namen Dora. Ihre Mütter Johanna und Antonia sind beide verwitwet. Vor einem Jahr verstarben kurz hintereinander ihre Männer durch schwere Krankheiten. Das Bild zeigt die beiden Geistlichen, die zugleich das Patenamt für die Täuflinge übernahmen. Ebenso wurde während der Messe die Segnung einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft vollzogen. Die beiden Mütter wurden kirchlich getraut und werden ihre Kinder gemeinsam aufziehen. Während der Messe unter freiem Himmel erklang das Sanctum . Schließlich wurde auch noch Verlobung gefeiert zwischen dem Chefredakteur der Allgäuer Rundschau, Magnus Augstein, und der Oberärztin der Unfallchirurgie in Kempten, Dr.   Vasthi Graf (im Bild rechts), einer Cousine von HW Rössle. Nach Taufe, Segnung und Verlobung erklang ein bewegendes Großer Gott, wir loben dich über das Wertachtal und den Talsee.«
    Überschrift: »Ökumenische Messe zwischen Rottach und Wertach.«
    »Ein schönes Bild und ein schöner Artikel«, sagte meine Nachbarin.
    »Ja, ein genialer Artikel.«
    »Ja, schon, aber warum genial?«
    »Weil er alles so schön zusammenfasst und so bewegend geschrieben ist.«
    »Ja, ich hab auch gleich feuchte Augen gekriegt, wie ich ihn gelesen hab.«
    Ich sagte ihr nicht, warum der Artikel wirklich genial war. Er war schön, er war bewegend. Und er war das Kündigungsschreiben von Rössle an seine Vorgesetzten.
    Ich sagte ihr nicht, dass es keine ökumenische Messe gibt. Geben darf. Auch Taufe nicht. Hohe Theologie. Feinstes Kirchenrecht. Ich erklärte ihr nicht lang und breit, dass eine Sakramentshandlung wie die Taufe nicht von zwei Geistlichen verschiedener Konfessionen als Messe gefeiert werden darf. Dass eine ökumenische Eucharistiefeier schlichtweg verboten ist. Wer das macht, fliegt. Ende. Es hatte auch keinen Sinn, ihr zu sagen, dass eine lesbische Trauung nicht sein kann. Wer das macht, fliegt noch mal. Noch mal Ende. Meine Nachbarin hielt an ihrem Glauben fest, die beiden Frauen lebten fortan in einer WG . Damit blieb das Tabu der Dorfgemeinschaft intakt.
    Wenn die Kirchenleitung diesen Artikel mit dem Foto, das Rössle in mehrfachen Dienstverfehlungen zeigte, vor die Augen kriegte, hatte sie keine andere Wahl, als ihn auf der Stelle zu feuern.
    Das einzig Erlaubte an der Zeremonie war die Verlobung des Chefredakteurs Magnus Augstein mit seiner Freundin Dr.   Vasthi Graf. Dass sie eine Cousine von Rössle sei, war eine glatte Lüge. Ich hatte lange gedacht, sie wäre seine Geliebte, aber in unserer Alkoholnacht vor einem Jahr vertraute er mir an: »Sie ist meine Tochter!«
    Mir wurde daraufhin klar, dass die Rössle-Graf-Augstein-Connection die atmosphärischen Schwankungen erklärte: Die Notärztin Dr.   Graf war am Anfang sehr abweisend gewesen und hatte keine Mördergrube aus ihrem Herzen gemacht darüber, was sie von der Seelsorge hielt und insbesondere von mir als Seelsorger. Ich war ein Fremdkörper, ein gefährlicher. Ich wusste von der Olivia Obholzer, dass Theo Amadagio erhängt aufgefunden wurde. Sie erzählte das ihrem Vater, und so wusste Rössle, dass ich von Stunde null an schon an dem Fall dran war. Er musste mich neutralisieren, um nicht zu sagen erpressen – um rauszufinden, was wirklich war, und zugleich durfte es nicht an die Öffentlichkeit kommen.
    Als Dr.   Graf von ihrem Vater erfuhr, dass ich für ihn ermittelte, war sie auf einmal sehr kooperativ bis besorgt. Sie brachte mir nicht nur Ohr und Nase wieder in Ordnung. Sie warnte mich. Nur eines sagte sie mir nicht: Dass sie den Abschiedszettel vom Theodor Amadagio hatte mitgehen lassen und ihrem Vater gegeben hatte. Die Feuerwehr hatte

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