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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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erklärte mir Australien. Auf Deutsch. Von Rechtsaußen. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Hundert Jahre Regression.
    Peinlich.
    Unendlich.
    Unendlich peinlich.
    Ich beschränkte mich auf:
    Schweigen.
    »Ah so?«
    »Hm« in allen Variationen.
    Gott sei Dank, die Zollbeamten waren fertig mit ihren Kontrollen. Nichts mehr konnte die wundgesessenen Passagiere zurückhalten.
    Mein deutscher Nachbar sagte: »Auf Wiedersehen. War eine interessante Unterhaltung mit Ihnen.«
    Mein asiatischer Nachbar lächelte mich an, sagte: »Auf Wiedelsehen.«
    Konnte er deutsch? Hatte er unsere »Unterhaltung« mitgehört?
    Bitte nicht!
    Ich schämte mich.

A View to Kill
    Ich saß, wie ausgemacht, in der Kapelle des Royal North Shore Hospital in Sydney. Ein Monster-Krankenhaus am Pacific Highway. Neben den bulligen Klinkerstein-Bauklotz schmiegte sich frech eine Kapelle mit einem Spitzdach, ein Dach wie ein steiles Zelt. An der Ostseite leuchtete die Sonne durch die bunten Kirchenfenster. Ich saß in den leeren Bänken.
    Allein.
    Hinten.
    Ich fror.
    Trotz Schiesser-Unterwäsche und C & A -Thermojacke.
    Mir war kalt.
    Ich war alt.
    Mir war schlecht.
    Ich kämpfte mit den Tränen.
    Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich hier Abschied genommen. Von meiner zweiten Heimat. In diesem Krankenhaus hatte ich Jahre meiner Ausbildung zugebracht. Meine Supervisoren tauchten in meinem Kopf auf. Meine Supervisanden. Ich konnte mich noch an alle erinnern.
    Ich hatte fünfundzwanzig Jahre lang kein Heimweh gespürt. Jetzt schlug es zu. Ich hätte nie hierherkommen dürfen.
    Alte Wunden aufreißen.
    Ich Depp! Ich Idiot!
    Ich steigerte mich in eine Selbstbeschimpfungstirade hinein.
    War immer noch besser als dieser messerscharfe Heimwehschmerz in meiner Brust.
    Und dazu aus dem Hintergrund im Halbdunkel die Orgel.
    Eine Fuge von Bach.
    Ein Choralvorspiel. »Wie schön leuchtet der Morgenstern.«
    Gespielt von einem Genie.
    Ging direkt ins Herz.
    Brachte mich fast um.
    So nimm denn meine Hände …
    Tortur pur.
    Ich zerfloss.
    Stille.
    Dann ganz leise, sachte, kaum vernehmlich, ich dachte nicht, dass jemand so leise Orgel spielen kann, zärtlich zum Umkommen:
    »Jesu, meine Freude …«
    »… behütet und getröstet wunderbar …« Bonhoeffer.
    Dann Schluss.
    Jemand klappte die Orgel zu.
    Ich schaute nach dem Organisten.
    Keiner da.
    Eine Frau war da, sperrte die Klappe ab.
    Mir fiel die Klappe runter.
    Was für eine Frau!
    Glänzendes schwarzes Haar. Schulterlang. Roter Pulli. Eng anliegend. Edelholz vor der Hütt’n.
    Schwarzer Minirock. Oh mein Popo …
    Beine wie das World Trade Center vor dem Fall.
    Feine rote Netzstrümpfe.
    Knallrote Stöckelschuhe.
    A view to kill!
    Sie kam auf mich zu.
    Mein Puls vervierfachte sich pro Viertelminute.
    Sie stand vor mir.
    Vierzig Jahr. Schwarzes Haar. So stand sie vor mir.
    »Emil Bär?«
    »Jess … jess …«
    So weit mein gepflegtes Englisch. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte ich jeden Morgen zwei Seiten laut in der englischen Good News Bible mit ihrer anmutigen Übersetzung in Umgangssprache gelesen, um mein geliebtes Englisch nicht einrosten zu lassen, hatte massenhaft englische Literatur verschlungen, jedes Wochenende am Bahnhof den Guardian gekauft, und das International Journal of Psychoanalysis abonniert. Und hier nun das Ergebnis:
    »Jess … jess …«
    Sie reichte mir die Hand.
    »Olivia Obholzer!«
    »O… O …«
    Oje.
    Sie lachte mich an. Ihr Gesicht leuchtete wie das Gesicht des Mose, als er vom Berg Sinai herabkam, nachdem er Gott gesehen hatte.
    »Das ist wohl die Brille … dass Sie mich nicht gleich wiedererkannt haben.«
    »Oh ja, die Brille … die Brille natürlich! Entschuldigen Sie … und der Jetlag … ja, und die Brille!«
    Eine randlose runde Brille machte ihr Gesicht jung und mädchenhaft.
    Eine neue Brille ist wie ein neues Leben …
    Sie hielt mir ein weißes, frisch gebügeltes Taschentuch hin. Sagte:
    »Hier haben Sie Ihr Taschentuch zurück. Vielen Dank. Es hat mir sehr geholfen.«
    »Danke. Keine Ursache.«
    Ich nahm mein Taschentuch und wischte mir mein verheultes Gesicht ab.
    »Darf ich mich kurz neben Sie setzen?«
    »Ja, gern, natürlich.«
    Ich rutschte ein Stück zur Seite, obwohl wir eine ganze leere Bank von mindestens fünf Metern Breite zu zweit hatten.
    Ich ergriff die Initiative. Wie einen Rettungsring.
    »Vielen Dank für Ihren Brief. Sie schreiben, Sie hätten mir viel zu erzählen.«
    »Ja … Aber zuerst erzählen Sie mir doch, wie Sie diesen

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