Kryptum
daraus zieht, habt Ihr mit unserer Gemeinde und, allen voran, mit den Toledanos zu teilen, und nichts darf geschehen, ohne vorher unseren Rat eingeholt zu haben.‹
›Das verspreche ich Euch.‹
Daraufhin führt Samuel Toledano Azarquiel durch das Kellergeschoß seines Hauses zu einem Raum, wo der Rabbiner sich ans Werk macht. Umgeben von all seinen Büchern greift er zur Feder, er schreibt und schreibt ohne Unterlaß, besser gesagt, er kritzelt dicht gedrängte Zahlenreihen aufs Papier, stellt kabbalistische Berechnungen an, zeichnet ein Netz aus sich kreuzenden Linien, deren Zwischenräume er hier und da ausmalt; unermüdlich ist er bei seiner Arbeit, tagein, tagaus, in dem Versuch, die Regeln zu verstehen, die jene seltsame Sprache |309| bestimmen. Aus der Vereinigung der Linien entstehen bald vertraute Abbilder der sichtbaren Welt, bald fügen sie sich zu höchst sonderbaren Bildern zusammen, die selbst Menschen mit einer überschäumenden Phantasie verblüffen würden. Und dann gibt es Momente, in denen es ihm gelingt, ein Stück des Musters auf dem Pergament nachzubilden. Das geschieht zwar nur selten, doch Toledano glaubt sich auf dem richtigen Weg. Mit der Zeit erschließen sich ihm so immer mehr Teile des Ganzen, die er an die bereits gefundenen fügt, um auch jene Ecken zu entschlüsseln, die sich ihm noch entziehen.
Seine einzige Verbindung zur Außenwelt ist Azarquiel, der ihm das Essen bringt, das er aber kaum anrührt. Wenig später verliert er gar jeglichen Appetit, und bald findet er auch keinen Schlaf mehr. Nach einigen Wochen fieberhaften Arbeitens an der Entschlüsselung des Pergaments wird der Greis von einer seltsamen Krankheit heimgesucht. Er kann nicht erklären, was mit ihm los ist. Wenn er zu sprechen versucht, bringt er nur unverständliches Gestammel hervor. Und eines Morgens ist er tot. Sein Antlitz ist zu einer gräßlichen Grimasse verzerrt, die wahrlich grauenerregend ist.
Es ist jedoch kein Anzeichen äußerer Gewaltanwendung zu erkennen. Die Augen sind aufgerissen, die Pupillen geweitet. An beiden Seiten des Halses treten die Muskeln hervor, die Adern sind geschwollen. Der ganze Körper ist stocksteif, aber in seinem Leib scheinen sämtliche Eingeweide geplatzt zu sein. Was auch immer der Grund für seinen Tod war, es muß etwas Entsetzliches gewesen sein.
Dennoch weiß Azarquiel um einige der im Pergament enthaltenen Geheimnisse, die ihm der Alte vor seinem Dahinscheiden noch enthüllt hat; anscheinend genug, daß der grämliche kleine Mann den Beschluß faßt, sich in Antigua niederzulassen. Bald darauf bietet er auf dem Marktplatz seine Dienste als Schreiber an, der jegliche Art von Dokumenten auf spanisch, lateinisch, arabisch oder hebräisch aufzusetzen verstehe. Gegenüber dem Pranger, an der Stirnseite der Kathedrale |310| , die sich an der Stelle erhebt, wo einst die Große Moschee gestanden hatte, unterhält er zu diesem Zweck einen winzigen Stand, der jedoch zu klein ist, um ihm wirklich als Schreibwerkstatt zu dienen, so daß er dort nur seine Aufträge annimmt. In Antigua fehlt es indessen nicht an mißtrauischen Seelen, und als man sieht, wie viele Besucher dort immer ein und ausgehen, gibt es manch einen, der ihn verdächtigt, den Stand in Wirklichkeit als bloßen Treffpunkt zu nutzen.
Die Gerüchteküche beginnt erst recht zu brodeln, als man bei Azarquiel nach einiger Zeit Zeichen großen finanziellen Wohlstands wahrnimmt. Die Blicke vieler sind fortan auf ihn gerichtet. Vor allem als herauskommt, daß im beliebtesten Viertel von Antigua nach und nach ein ganzer Häuserblock in seinen Besitz übergegangen ist. Es heißt, er habe große Summen an die Bewohner der einzelnen Häuser bezahlt, und er habe das ganze Kapital der jüdischen Gemeinde im Rücken, die geschlossen hinter ihm stehe, mit den Toledanos an der Spitze.
Unter großer Geheimhaltung wird der alte Häuserblock in der Folgezeit unermüdlich umgebaut. Von der Straße aus sieht man nichts als die gleichen Häuserfassaden wie eh und je, die kaum Fenster haben. Doch im Inneren hebt man unaufhörlich unterirdische Gewölbe und Schächte aus, die so ausgedehnt und verwirrend angelegt werden, daß es viele Generationen dauern wird, um dieses Labyrinth in seinem ganzen Ausmaß zu erfassen.
Man beobachtet Azarquiel voller Argwohn und munkelt so allerlei. Zu den Gerüchten, die bereits über ihn im Umlauf sind, kommt nun noch das Getuschel über die heimliche Plackerei. Und das Mißtrauen wächst weiter, als
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