Kryptum
bekannt wird, daß Azarquiel, der nach außen hin ein zurückgezogenes Leben führt, sich neben den Juden häufig auch mit den Morisken und den Fremden trifft, die von überallher nach Antigua gekommen sind, um an der Übersetzerschule von König Alfons X., ihrem neuen christlichen Salomo, zu arbeiten. Doch da sein öffentliches Auftreten musterhaft ist und Azarquiel |311| mächtige Beschützer hat, wagt niemand, ihn zu belästigen oder sich in seine Angelegenheiten einzumischen. Zumindest solange er noch unter den Lebenden weilt.
Denn es kommt der Moment, da Azarquiel beginnt, sich unwohl zu fühlen. Wenn er redet, wechselt er nun immer häufiger ohne ersichtlichen Grund von einer Sprache in die andere, so daß es fast unmöglich ist, ein flüssiges Gespräch mit ihm zu führen. Innerhalb weniger Wochen vermag er schließlich nur noch in einer seltsamen und unverständlichen Sprache zu stammeln. Und eines Tages wird er tot aufgefunden, seine Leiche treibt im Fluß. Es ist kein Anzeichen äußerer Gewaltanwendung zu erkennen. Trotzdem sieht er grauenhaft aus: die Augen sind aufgerissen, die Pupillen geweitet und die Adern geschwollen. Am Hals treten die Muskeln hervor, der ganze Körper ist stocksteif und sein Leib aufgedunsen. Bei seinem Anblick erinnert sich mehr als einer an den schrecklichen Tod des alten Rabbiners, Samuel Toledano. Bevor Azarquiel jedoch beigesetzt werden kann, verschwindet sein Leichnam auf mysteriöse Weise.
Die Nachforschungen, die man daraufhin anstellt, mehren die Mutmaßungen über die Herkunft von Azarquiels Vermögen. Die einen vermuten, er habe einen Schatz gefunden. Andere wiederum behaupten, er sei Alchemist gewesen und habe es geschafft, Edelmetall herzustellen, durch seine Habgier sei er bei dessen Transmutation jedoch zu Tode gekommen. Bei der Durchsicht seiner Papiere werden alsdann ungewöhnliche Pläne gefunden, auf denen in Übereinstimmung mit den astrologischen Konstellationen der Gestirne nicht nur die Straßen und Häuser der Stadt eingezeichnet sind, sondern auch ihre unterirdischen Gänge und Gewölbe. So dauert es nicht lange, bis sich das Gerücht verbreitet, er habe schwarze Magie betrieben, woraufhin das Haus, in dem er gewohnt hat, von einer ganzen Horde von Schatzsuchern heimgesucht wird. Scharenweise strömen sie herbei und bearbeiten den Boden mit ihren Schaufeln und Spitzhacken. Kein Stein bleibt auf dem anderen, alles wird in den Kellergewölben umgegraben, während |312| ihnen aus den morastigen Gängen Schwefelgestank entgegenschlägt. Doch man findet nur ein paar mit verkohltem Erz gefüllte Keramikgefäße.
Die Obrigkeit beunruhigt am meisten das unterirdische Labyrinth selbst. Azarquiel schien die bereits existierenden Gänge in- und auswendig gekannt zu haben. Indem er sie miteinander verband, war es ihm gelungen, eine zweite, unterirdische Stadt zu erschaffen, wobei er sich das Granitgestein, auf dem Antigua erbaut ist, zunutze gemacht hat.
Niemandem gelingt es jedoch, das Labyrinth in seiner Gänze zu erforschen, denn nachdem die ersten Symptome seiner seltsamen Krankheit aufgetreten waren, hatte Azarquiel einen unheimlichen Tatendrang an den Tag gelegt und Sorge getragen, die strategisch wichtigsten Gänge zu vermauern sowie einige Mauern zum Einsturz zu bringen, um alle Spuren zu verwischen, die ihn belasten könnten.
Nichtsdestotrotz kann man durch die Kellergewölbe jenes unheilvollen Hauses noch zur Kathedrale, dem Alkazar, dem Haus des Stadtrats und vielen anderen öffentlichen und privaten Gebäuden vordringen. Man munkelt, die Wohnhäuser der jüdischen Gemeinde seien durch diese unterirdischen Galerien miteinander verbunden und führten über mehrere Meilen hinaus aufs offene Feld, um den Juden im Falle einer Verfolgung die Flucht zu ermöglichen. Und unterdessen würden sie für ihre geheimen Versammlungen und Gottesdienste genutzt.
Klagen kommen auch von seiten des Domkapitels, das die Fundamente der Kathedrale und ihre Katakomben – in deren Nähe sich die Häuser des verstorbenen Schreibers und seiner Getreuen befinden – entweiht sieht. Zudem kommt es zu einigen Einstürzen und Todesfällen, sowohl unter Tage als auch in einigen Gebäuden, deren Fundamente durch törichte Menschen unterhöhlt worden sind, die von ihren Kellern aus gegraben haben, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sich dies auf die Oberfläche auswirken würde. Azarquiel hatte sich damit genauestens ausgekannt.
|313| Noch lange Zeit nach dessen Tod
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