Kryptum
ihn. Hastig setzt er sich auf. Wie lange hat er geschlafen?
Als sich die schwere Eisentür öffnet, erscheint zuerst ein Soldat auf der Schwelle, der danach zur Seite tritt, um eine Frau passieren zu lassen. Randa kann ihr Gesicht im Gegenlicht nicht sehen. Und auch ihre Figur ist nur schwer auszumachen, denn sie trägt eine unförmige braune Kutte aus grobem Stoff.
Raimundo Randa erhebt sich von seinem steinernen Lager und verfolgt aufmerksam die Bewegungen der Frau, wie sie die Stufen herabsteigt. Sie ist sehr jung. Als sie näher kommt, glaubt er sie zu erkennen.
»Das ist nicht möglich!« stammelt er.
Im Schein des schmalen Lichtstrahls, der aus der Höhe der Deckenwölbung herunterfällt, gewahrt er zuerst das lange blonde Haar, das ihr weich über die Schultern fällt, und dann |36| die Züge ihres jugendlichen Gesichts, die durch den Lichtkegel beinahe hart wirken.
»Ruth!« ruft der Gefangene aus.
Da läuft das Mädchen auf ihn zu und umarmt ihn. Doch als sie seine baumgleiche Starre fühlt, zuckt sie zusammen.
»Vater! Was hat man Euch angetan?«
Der Wächter oben an der Tür tritt nunmehr einen Schritt zurück, um eine alte Frau durchzulassen. Sie kommt die Stufen herunter, geht zu der Steinbank und stellt eine Waschschüssel mit einem Krug Wasser darauf. Daneben legt sie ein Handtuch und saubere Kleidung und wendet sich dann wieder wortlos zum Gehen.
Als Randa darauf den Blick zur Tür hebt, nimmt er zum ersten Mal die Gegenwart eines vermummten Mannes wahr, seine bedrohliche Silhouette, die sich oben auf der Schwelle abzeichnet. Auf dessen Wink hin ziehen sich die Soldaten zurück und lassen den Gefangenen mit seiner Tochter allein. Die Türangeln quietschen.
»Vergeßt nicht, die Riegel einzufetten«, hört man noch eine Stimme von draußen, die durch die dicke Eisentür gedämpft wird. Dann verhallen die Stimmen und Schritte. Stille bemächtigt sich des Raums.
»Kommt, Vater, setzt Euch«, sagt die junge Frau nun und führt ihn mit sachter Hand zu der Bank.
Ruth sucht Randas Blick; sie will Zugang zu ihm finden. Doch der vorzeitig gealterte Mann schaut nur düster drein; er ist weit weg mit seinen Gedanken. Es liegt keine Schroffheit in seinen Gesten. Aber Ruth spürt, daß etwas in ihm zerbrochen ist. Sie spürt die tiefe Verzweiflung, die ihn erfüllt, die Anspannung der Gesichtszüge, wenn sie ihn liebkost.
Die junge Frau bückt sich jetzt nach dem Krug und gießt Wasser in die Waschschüssel. Dann nimmt sie das Handtuch, befeuchtet es und beginnt ihren Vater zu waschen, der schließlich zu reagieren scheint, als sie ihn bittet, die Schüssel zu halten. Vielleicht ist es die Kälte. Vielleicht aber auch, weil er im Wasser sein Spiegelbild entdeckt, nachdem er sich schwerfällig |37| über das Gefäß gebeugt hat. Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich noch mehr. Dennoch läßt er seine Tochter gewähren.
»Und Rafael …?« fragt Randa endlich. »Wo ist dein Mann?«
Das Mädchen lächelt ihn an. Sie versucht, fröhlich zu wirken.
»Macht Euch um ihn keine Sorgen. Es geht ihm gut … wenn er sich auch sicherheitshalber versteckt hält … Dreht Euch jetzt bitte um.«
Ruth entkleidet ihrenVater bis zur Hüfte und wäscht danach seine Schultern, Brust und Rücken.
»Weshalb hat man dich zu mir gelassen?« Randa blickt sich zu seiner Tochter um, die seinen Arm zum Waschen hebt.
»Ich weiß es nicht«, antwortet Ruth mit der hellen, klaren Stimme, die sie von ihrer Mutter geerbt hat. »Der Mann, der mich hergebracht hat, hat nur gesagt: ›Vielleicht schaffst du es ja, deinen Vater zum Sprechen zu bewegen. Es wird seine letzte Chance sein. Ihr habt zehn Tage. So lange hat man die ordentlichen Gerichtsverhandlungen ausgesetzt, da auf Geheiß von Papst Gregor der Kalender umgestellt wird. Eine Frist, die wir alle, einschließlich des Königs, zu respektieren haben. Danach werden die Verhöre durch die Inquisition beginnen, und du wirst ihn erst wieder zu Gesicht bekommen, wenn er auf den Marktplatz geführt wird, um auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.‹«
»Was ist das für eine Kalenderumstellung?«
»Nach der neuen Art und Weise, die Zeit einzuteilen, haben wir auf einmal zehn Tage zuviel. Die müssen überbrückt werden. Deshalb wird es so sein, als hätte es den heutigen Tag und die neun folgenden nie gegeben. Doch sagt mir, Vater, was habt Ihr dem Inquisitor zu gestehen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, weicht Randa ihrer Frage aus. Aus seiner Stimme wie aus seinen Gesten
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