Kryptum
zerlumpten Beinkleider. Danach schlüpft er in die frische Kleidung. Erleichtert seufzt er auf, als er den sauberen Stoff auf der Haut spürt.
Und dann fängt er an zu erzählen.
»Es begann alles hier in dieser Stadt, in Antigua, vor vielen, vielen Jahren, als meine Familie noch im Palast neben der Casa de la Estanca wohnte …«
»Sprecht Ihr von der Casa de la Estanca neben dem Palast, in dem Mutter und ich bis vor kurzem noch mit Rafael und seinem Vater gelebt haben?«
»Genau die, es gibt keine andere. Und es wird auch nie etwas Vergleichbares geben, sie ist einzigartig. Schon damals, als meine Familie noch dort wohnte, war es ein seltsamer Ort. Uns Kindern verbot man unter Strafe, in die Kellergewölbe hinunterzusteigen …«
Er hält inne. Das Sprechen fällt ihm schwer. Ruth greift nach dem Wasserkrug, den sie neben der Steinbank abgestellt hat, und gibt ihm zu trinken.
»Warum durftet Ihr nicht hinunter?«
»Man erzählte uns, daß man von dort aus zum Herzen der Erde gelänge, das ein fürchterlicher Drache bewache. Vermutlich wollten sie uns mit diesem Schauermärchen nur Angst einjagen. Nichtsdestotrotz drangen des Nachts von dort unten schreckliche Geräusche empor. Ich habe nie herausbekommen, ob sie wirklich existierten oder nur Teil meiner Alpträume waren.«
»Was waren das für Geräusche?«
|41| »Es klang wie das wilde Tosen von Wassermassen, die aus großer Höhe herabstürzten. Wenn ich vor Angst nicht schlafen konnte, flüchtete ich zu meinen Eltern ins Bett. Später, als meine Schwestern auf der Welt waren, krochen diese zu mir ins Bett, und obgleich ich selbst bibberte, ließ ich mir nichts anmerken, damit sie sich beruhigten … So lebten wir unser Leben, bis eines Tages, ich war gerade einmal zehn Jahre alt, ein königlicher Bote zu uns kam, der meinem Vater einen Brief Seiner Majestät überbrachte …«
»War Philipp II. denn damals schon König?«
»Nein, nur Regent. Er vertrat seinen Vater, Karl V., der fern von Spanien weilte. Jener Bote brachte keine guten Nachrichten. Ich hörte meine Eltern streiten, bis mein Vater seinen Mantel nahm und das Haus verließ. Er kehrte erst spät abends zurück. Er war ein bißchen angetrunken, und es gab wieder Streit. Sie schrien sich sogar an. Die Zwillinge wachten davon auf und kamen weinend in meine Kammer gelaufen. Ich rief nach meiner Mutter und fragte sie, was los sei. ›Nichts, mein Sohn, geh ins Bett.‹ Ich tat so, als gehorchte ich, doch wenig später schlich ich zu meinem Vater hinunter, der sich am Kaminfeuer wärmte, da er sich scheute, ins Schlafgemach hinaufzusteigen. Ich fragte ihn, was geschehen sei. Da nahm er mich auf den Schoß. ›Man hat mich nach Andalusien beordert‹, antwortete er. ›Wollt Ihr denn dahin?‹ fragte ich. ›Ich habe zu gehorchen‹, seufzte er. ›Warum, wenn Ihr doch nicht wollt?‹ entgegnete ich. Und er erwiderte:›Mein Bruder, der Abt, braucht Söldner … Und auch aus Disziplin, mein Sohn. Eines Tages wird dir dasselbe widerfahren; dann wirst du mich verstehen …‹ Ich war der Erstgeborene der Familie. Und der einzige Sohn. Er wollte, daß ich wie er eine militärische Laufbahn einschlug. Deshalb brachte er mir das Reiten bei, machte mich von klein auf mit Pferden vertraut. Er galt als der beste Reiter im ganzen Königreich. Er unterwies mich auch im Umgang mit Waffen. Und nahm mich mit auf die Jagd. Ich stellte mich dabei gar nicht so ungeschickt an, war mir allerdings nicht sicher, ob dies alles auch meinen wahren Neigungen entsprach.«
|42| »Welche waren denn Eure wahren Neigungen?« fragt Ruth nach.
»Das wirst du schon noch sehen, falls wir Zeit dafür haben. Wie lange darfst du eigentlich hierbleiben?«
»Sie werden mich sicher nicht vor dem Abend holen. Wir haben also Zeit. Fahrt fort, ich bitte Euch.«
»Das Kastell, das mein Vater befehligen sollte, lag im Bergland hinter Granada, wo die kriegerischsten Morisken lebten. Doch zuerst reisten wir zu seinem jüngeren Bruder, der Abt eines Missionsklosters war und den man damit betraut hatte, die Mönche auf die Bekehrung der Mauren zum christlichen Glauben vorzubereiten. Wir blieben etwa zwei Wochen dort, und als mein Onkel meinen Lerneifer sah, bat er meinen Vater, mich bei ihm zu lassen, damit er sich um meine Ausbildung kümmern könne. Aber mein Vater antwortete ihm: ›Ein Mönch in der Familie ist genug. Diego soll Söldner werden, wie ich.‹«
»Diego?«
»Ja, mein wirklicher Name ist nicht Raimundo Randa, sondern
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