Kryptum
zum anderen, und der erste Klatschmohn wand sich im Zickzack durch die grünen Weizenfelder. Er konnte einfach nicht vergessen, wie Alcuzcuz das Burgtor geöffnet hatte, um die Aufständischen hereinzulassen. Dieses Bild löschte all die anderen aus, die er in den ganzen Jahren von ihm gesammelt hatte: Alcuzcuz beim Spielen; Alcuzcuz, wie er ihm beibrachte, seine Sprache zu sprechen und zu schreiben; die Augenblicke, die sie schweigend und mit weit aufgerissenen Augen nebeneinander in den Binsen am Fluß hockten, um die Fische nicht zu vertreiben, die sich ihren Angeln näherten; die alte Moriskenfrau, die am Webstuhl ihre Fäden miteinander verwob; der haßerfüllte Gesichtsausdruck des Jungen, als seine Wange mit dem weißglühenden Eisen markiert wurde …
Da nimmt Raimundo den erwartungsvollen Blick seiner Tochter wahr. Er verscheucht seine Gedanken und kehrt in die Wirklichkeit des Verlieses zurück, um seine Erzählung fortzusetzen.
»Mein Onkel, der Abt, betrachtete es als selbstverständlich, daß er sich meiner annahm und sich fortan um meine Erziehung kümmerte, wie er mir nach einigen Tagen mitteilte. Er gab mir aber auch folgendes zu bedenken:
|52| ›Außerhalb dieser Klostermauern kennt niemand deinen Aufenthaltsort, und niemand weiß, daß du der einzige Zeuge des Gemetzels bist. Das ist auch besser so, zu deiner eigenen Sicherheit. Es muß erst einige Zeit verstreichen, bis das Vorgefallene in Vergessenheit geraten ist. Zu gegebener Zeit könntest du hier die Ordensgelübde ablegen. Natürlich nur, sofern du dies wünschst. Auf jeden Fall solltest du aber deinen Namen ändern. Als Diego de Castro wirst du nicht weit kommen.‹
Er dachte einen Augenblick nach, lief in seinem Studierzimmer ein paarmal auf und ab, ließ dann seinen Blick über die Bücher in den Regalen schweifen und sagte schließlich:
›Was hältst du von
Raimundo Randa
?‹
›Raimundo Randa? Wie bist du gerade auf diesen Namen gekommen?‹ fragte ich ihn neugierig.
›Eines Tages wirst du es verstehen‹, erwiderte er mit einem rätselhaften Lächeln.
So wurde ich zu seinem Adlatus und half ihm, die Bücher und Papiere des Klosters zu ordnen. Dort entdeckte ich, daß meine Leidenschaft die Sprachen waren; es fiel mir außerordentlich leicht, sie zu erlernen. Mein Onkel hatte das Collegium Trilingue in Leuven besucht, und als er erfuhr, daß mir das Arabische nur wenig Mühe bereitete, drängte er mich, auch Hebräisch, Latein und Griechisch zu lernen.
Eines Tages, als er mich aus der ›Odyssee‹ rezitieren hörte, von der ich ganze Passagen auswendig wußte, sagte er zu mir:
›Du besitzt wahrlich eine große Gabe. Mit einem solchen Wissen wird es dir nie an Arbeit fehlen. Und sicherlich auch nicht an Freunden.‹
›Ich würde gern mein Arabisch vervollkommnen‹, gab ich ihm geschmeichelt zur Antwort.
›Das wird kein Problem sein. Wir haben hier einen jungen konvertierten Morisken, der mir hilft, die arabischen Manuskripte zu sichten und die Inschriften zu entschlüsseln, die hier allerorts zu finden sind. Ich will sichergehen, daß sie nicht gegen den christlichen Glauben verstoßen.‹
|53| Der junge Mann hieß Alonso del Castillo und war etwas älter als ich. Seine Eltern waren bei seiner Geburt bereits getauft gewesen; sie entstammten einer jener maurischen Adelsfamilien, die die Katholischen Könige bei der Eroberung von Granada unterstützt hatten. Er kannte auch Alcuzcuz, und obgleich ich mich hütete, über meine Beziehung zu ihm zu sprechen, erfuhr ich dennoch, daß mein alter Sklave, wie so viele der Seinen, nach dem Überfall auf unser Kastell nach Afrika geflohen war.
Die Jahre vergingen. Irgendwann erhielt Alonso del Castillo den Auftrag, die Inschriften in der Alhambra zu übersetzen. Da seit dem Überfall inzwischen viel Zeit verstrichen war, ohne daß es irgendwelche Probleme gegeben hätte, fühlte ich mich zuversichtlich genug, meinen Onkel um Erlaubnis zu bitten, Alonso zu begleiten. Ich hatte Alcuzcuz dermaßen in den Beschreibungen jenes Ortes schwelgen hören, daß ich darauf brannte, den Palast mit eigenen Augen zu sehen. Ich erwartete nicht, daß er so schön sein würde, wie Alcuzcuz ihn mir einst in seinen nostalgiegeschwängerten Reden auszumalen pflegte, die ich für maßlose Übertreibungen seines unbändigen Stolzes hielt. Doch ich mußte feststellen, daß man für solch eine Herrlichkeit gar nicht genug der schönen Worte finden konnte. Die Pracht der Säle überwältigte mich, und
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