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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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während ich sie fasziniert durchwanderte, regte sich in mir der glühende Wunsch, mehr zu erfahren über dieses Volk, das fähig war, sich eine derartige Welt zu erschaffen.
    Denn noch immer verfolgten mich die Erinnerung an meine Eltern und das Bild ihres gewaltsamen Todes, noch immer war mir Ishaqs damaliges Handeln unbegreiflich. Ich wollte einfach
verstehen,
wie der Glaube an einen anderen Gott solche Gräben aufreißen konnte. Und da ich vermutete, daß meinen Onkel etwas Ähnliches umtrieb, sprach ich ihn eines Tages, als wir gemeinsam durch den Kreuzgang des Klosters spazierten, darauf an.
    ›Ich bin mir darüber sehr wohl im klaren, was du empfindest‹, gestand er ein. ›Deine eigenen Erklärungen werden dir |54| nicht viel nutzen, wenn du dich nicht mit denen deines Gegners auseinandersetzt. Das beweist, daß das Studium deine wahre Berufung ist. Mir ergeht es nicht anders. Doch draußen in der Welt könnte ich nicht in derselben Weise leben, wie ich es hier tue. Ich könnte nicht einmal die Bücher lesen, die ich hier lese. Innerhalb dieser Mauern habe ich die Freiheit dazu. Und den Frieden.‹ Und als nähme er einen Zweifel in meinem Blick wahr, fügte er noch hinzu: ›Glaub nicht, daß es Feigheit ist. Ich habe schon viel mehr Blut fließen sehen, als du dir vorstellen kannst. Nicht Angst hält mich hier, wie mein Bruder glaubte. Es ist vielmehr die Überzeugung, daß wir die Morisken vergeblich bekämpfen, wenn wir nicht versuchen, sie zu verstehen.‹
    ›Warum wurde mein Vater überhaupt hierher in die Sierra gesandt?‹ traute ich mich da zu fragen.
    ›Darüber solltest du mit niemandem sprechen‹, antwortete er ausweichend, wenn auch mit ernster Miene. ›Du würdest dich damit verraten. Und sie wüßten dann, daß du noch am Leben bist.‹
    ›Und wer ist das, der das nicht wissen darf?‹
    Auch dieser Frage wich er aus. Damals ging mir auf, daß er über vieles im Bilde war, das er mir verschwieg. Er wußte von der Casa de la Estanca, in der wir in Antigua gelebt hatten. Und von den Gründen für die Versetzung meines Vaters. Und er kannte denjenigen, der für dessen Tod verantwortlich war. All diese Dinge würde er mir jedoch niemals erzählen. Zu seiner Sicherheit. Und zu meiner eigenen.
    Ich begann also, unter den Besuchern des Klosters Nachforschungen anzustellen. Doch muß ich mich dabei nicht sonderlich geschickt verhalten haben, denn meine Fragerei kam wohl denjenigen zu Ohren, denen der Abt meinen Aufenthaltsort mit allen Mitteln zu verheimlichen gesucht hatte. Und so kam mein Onkel eines schönen Tages aufgeregt in meine Zelle gelaufen.
    ›Du mußt sofort fliehen! Man hat herausgefunden, daß du dich hier versteckt hältst. Dein Leben ist in großer Gefahr.‹
    |55| ›Fliehen? Und wohin?‹
    ›Nach Neapel. Ich gebe dir ein Empfehlungsschreiben mit für den Superior eines Klosters, mit dem ich befreundet bin. Morgen begeben sich ein paar Pilger auf Wallfahrt zum Papst. Du wirst mit ihnen reisen und dasselbe Schiff nehmen, das sie an der Küste erwartet …‹«
    Raimundo Randa scheint erschöpft zu sein. Er nimmt den Wasserkrug mit beiden Händen, trinkt einen langen Schluck und wendet sich dann an seine Tochter.
    »Wie lange darfst du noch hier an meiner Seite bleiben?«
    »Ich weiß es nicht, Vater. Sprecht weiter. Wenn wir an diesem ersten Tag die Zeit nicht nutzen, kommen sie mich danach vielleicht immer früher holen.«
    »Die Geschichte, die jetzt folgt, ist aber sehr lang.«
    »Sprecht weiter. Bitte!«
    »Nun gut … Ich schiffte mich also nach Italien ein. Doch kurz vor der Ankunft – es war am Vorabend von Maria Schnee, also am vierten August, ich erinnere mich noch genau – wurden wir von türkischen Korsaren überfallen, die uns hinter einer kleinen Insel aufgelauert hatten. Sechs Galeeren umringten uns und geleiteten uns zum Hauptschiff ihrer Flotte, die zu unserer Überraschung aus fast hundert hervorragend ausgerüsteten Galeeren und Galeassen bestand.
    Einer ihrer Anführer kam auf unser Schiff und fragte uns nach unseren Berufen, mit Hilfe eines Renegaten, der für ihn dolmetschte. Dann sonderten sie diejenigen aus, die sie für nützlich hielten, besonders Ärzte und Barbiere, die ihnen ebenso dienlich sein konnten wie die Chirurgen, aber auch Tischler, Schlosser, Waffenschmiede und Kanoniere, da letztere dazu taugten, sie in unseren Waffen- und Kriegskünsten zu unterweisen.
    Diese Unterscheidung machten sie indes nicht zwischen denen, die in etwa mein Alter

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