Kryptum
welche Gefahr wir uns begeben, wenn wir uns gänzlich unvorbereitet auf die Suche nach ihr machen.«
»Warum schickt sie Ihnen beiden dann diese Briefe?«
»Damit wir einem Geheimnis auf die Spur kommen, das sie nicht entschlüsseln konnte. Und dann, aber wirklich
erst dann
, eine Entscheidung treffen. Wir müssen uns erst aller Gefahren bewußt sein, die da unten lauern.«
Der Kommissar kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Während er den Brief noch einmal las, versuchte David seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen.
»Mein Lebtag hab ich so etwas noch nicht gelesen. Das ist für mich wie ein Buch mit sieben Siegeln«, urteilte Bealfeld, nachdem er ihm die Briefbogen zurückgegeben hatte.
»Keine Sorge, das liegt nicht an Ihnen. Es ist geradezu unmöglich, etwas davon zu begreifen, ohne die Vorgeschichte zu kennen. Was wissen Sie über Sara Toledano und ihre Familie?«
»Nur wenig. Sara ist mehr mit meiner Frau befreundet. Ich weiß nur, daß sie über familiäre Dinge so gut wie nie spricht.«
»Zwangsläufig … Das ist eine sehr lange Geschichte. Wenn Sie darüber Bescheid wüßten, würden Sie verstehen, warum es keinen Sinn hat, daß ich mit Rachel Toledano rede. Und mit James Minspert von der NSA noch viel weniger.«
|82| »Wollen Sie damit etwa sagen, daß Sie sich weigern, uns zu helfen? Obwohl Sara Sie inständig darum bittet? Sind Sie sich bewußt, daß Sara vielleicht in Lebensgefahr ist?«
»Natürlich werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, Kommissar, für wen halten Sie mich? Aber bei den beiden werde ich nichts erreichen. Und nicht nur das: mein Besuch wäre geradezu kontraproduktiv.«
»Das werden Sie mir genauer erklären müssen.«
»Das ist nicht der beste Augenblick, um Ihnen eine so verzwickte Geschichte zu erzählen.«
»Wir werden aber keinen besseren mehr haben, Mr. Calderón. Ich muß Rachel Toledano den zweiten Umschlag übergeben, den ich hier in meiner Tasche habe. Und ich werde die Stiftung nicht
ohne
Sie verlassen. Ich möchte aber auch nichts falsch machen. Versuchen Sie also, mir alles über die Familie Toledano zu erzählen, was ich wissen sollte. Uns bleibt etwas über eine Stunde, bis Ihr Geschäftsführer zurückkommt.«
David ging zu seinem Stuhl und setzte sich dem Kommissar gegenüber. Er betrachtete die Fotografie auf dem Tisch und begann mit den Fingern auf die gemaserte Schreibtischplatte aus Eichenholz zu trommeln.
»Rachel Toledano … Uff! Es ist schwer, etwas über diese Frau zu sagen … Ich glaube, es wird nichts bringen, zu ihr zu fahren.«
»Mr. Calderón! Fangen Sie bitte nicht wieder damit an. Denken Sie an das, was Sara Ihnen in ihrem Brief schreibt. Und daß die Zeit drängt!«
»Also gut, ich werde versuchen, die Familiengeschichte zusammenzufassen; mal sehen, ob ich Sie davon überzeugen kann, daß es nichts nutzen wird, wenn ich Sie begleite.«
»Darf ich …?« Bealfeld zeigte auf das Foto. »Es ist auf der Plaza Mayor von Antigua aufgenommen. Aber wie lange ist das her?«
»Gut dreißig Jahre. Ich war noch nicht geboren.«
»Das ist also Ihr Vater. Sie sehen ihm sehr ähnlich. Und das ist Sara. Hübsch ist sie. Und da in der Mitte, das muß Abraham |83| Toledano sein, stimmt’s? Er war ein sehr einflußreicher Mann, nicht wahr?«
»Hier können Sie ihn besser sehen.« David zeigte auf ein Gemälde an der Wand gegenüber. »Mit vollem Namen hieß er Abraham Salomo Ezequiel Toledano. Geboren wurde er in Jerusalem als erster Sohn einer sehr kultivierten und wohlhabenden Sephardenfamilie aus Bagdad. Sie hatten viel Geld mit den Karawanen gemacht, die Bagdad mit Damaskus verbanden, wo es einige Seitenlinien der Familie gab. Der Erstgeborene wurde jedoch nicht Juwelier, wie es Tradition war. Abraham wurde zum Intellektuellen der Sippe und war ein großer Sprachkenner. Mit achtzehn Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch über den Nahen Osten.«
»Ein ganz schön heller Kopf.«
»Das war erst der Anfang. Später ging er zum Studium nach Deutschland, um dort seine Kenntnisse in den semitischen Sprachen zu vertiefen, und arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg dann einige Jahre lang als Professor. Ende der zwanziger Jahre zog er nach Spanien, wo in Madrid ein neuer Lehrstuhl für ihn eingerichtet wurde und er sich auf das Zusammentreffen der arabischen, christlichen und jüdischen Kultur in Antigua spezialisierte, der Stadt, aus der viele Jahrhunderte vorher seine Vorfahren vertrieben worden waren. In Antigua kaufte er sich einen
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